Protestantischer Märtyrer

Plastische Schilderung des Lebensweges. Zur Bonhoeffer-Biografie von Ferdinand Schlingensiepen. Von Niklaus Peter

Heute zählt Dietrich Bonhoeffer zu den bekanntesten evangelischen Theologen überhaupt. Seine in Stein gehauene Statue steht, zusammen mit jenen von neun anderen christlichen Märtyrern des 20. Jahrhunderts, über dem Portal der Westminster Abbey. Eine siebzehnbändige Werkausgabe macht alle erhaltenen Schriften und den Nachlass zugänglich. Und zwei Filme sorgen dafür, dass er auch im Leitmedium der heutigen Zeit präsent ist: ein Spielfilm von Eric Till und ein Dokumentarfilm von Martin Doblmeier

Widerstand und Ergebung 

Als Bonhoeffer am 9. April 1945, kurz vor Kriegsende, im nordbayrischen Konzentrationslager Flossenbürg ermordet wurde, war er einer weiteren Öffentlichkeit unbekannt. Er hatte zwar eine Dissertation verfasst und sich dann mit einer systematisch-theologischen Arbeit an der Universität Berlin habilitiert, aber weder dieses noch seine zwei weiteren Bücher wurden von einem grösseren Kreis wahrgenommen. Seine «Ethik», von der er hoffte, dass sie sein Hauptwerk werde, blieb ein unvollendetes, umfängliches Fragment – ein in vier Anläufen, zwischen konspirativen Treffen und gefährlichen Reisen, begonnener, schliesslich im Gefängnis unter schwierigen Bedingungen weiter bearbeiteter Torso, der nicht einfach zu interpretieren ist, denn aus Sicherheitsgründen konnte der Autor nicht alles offen formulieren. Auch nach dem Krieg blieb Bonhoeffer vorerst ein Unbekannter. Der Verfasser der hier anzuzeigenden neuen Biografie, Ferdinand Schlingensiepen, erzählt, wie er erst 1948 der Gestalt Bonhoeffers in einer kleinen Schrift Visser't Hoofts begegnete und fasziniert war – Jahre später entdeckte er, dass sein eigener Vater zusammen mit Bonhoeffer in Martin Niemöllers Haus verhaftet worden war.

«Widerstand und Ergebung»

Schlagartig bekannt wurde Bonhoeffer, als Eberhard Bethge im Jahr 1952 die an ihn gerichteten Briefe des Theologen unter dem Titel «Widerstand und Ergebung. Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft» veröffentlichte. Diese Gefängnisbriefe wurden zu einer der meistgelesenen und wichtigsten theologischen Veröffentlichung des 20. Jahrhunderts. Sie boten etwas, was man sonst in theologischen Büchern hinter dem Fachwerk spröder Rationalität und begrifflicher Versiegelung oftmals vergeblich sucht, nämlich Einblick in den dichten Zusammenhang von existenzieller Erfahrung, Spiritualität und Reflexion. Hier begegnete man einem Christen, der sich entschlossen hatte, an der konspirativen Vorbereitung eines Tyrannenmordes mitzuwirken, und deswegen im Gefängnis sass. Sein Nachdenken über Recht und Gerechtigkeit, über Verantwortung und Mut, über Zeit und Ewigkeit, über Widerstand und Ergebung hatte Intensität und Authentizität. Aber nicht nur das, in der Einsamkeit des Gefängnisses und im brieflichen Gespräch mit seinem Freund brach Bonhoeffer zu einer radikalen theologischen Selbsterkundung auf, welche auf die Religionskritik und Religionslosigkeit der modernen Welt nicht defensiv reagierte, sondern sie theologisch aufzunehmen und zu beantworten suchte.

Die Gefahr des Steinbruchs

Der fragmentarische, unabgeschlossene und interpretationsbedürf-tige Charakter dieser «ins Unreine» gesprochenen Gedanken faszinierte viele, inspirierte Theologen und Theologinnen freilich auch dazu, Brocken aus diesem Steinbruch in eigene Konstruktionen einzubauen, die nur noch wenig mit Bonhoeffers dichter theologischer Reflexion zu tun hatten. Dazu zählt etwa die «Gott-ist-tot-Theologie» unseligen Angedenkens. 1966 erschien Eberhard Bethges monumentale, 1100-seitige Biografie, welche nicht nur Bonhoeffers theologische Entwicklung und seinen aktiven Beitrag im deutschen Kirchenkampf, seinen entschiedenen Widerstand gegen jede Ausgrenzung und Entrechtung der Juden und Judenchristen sowie seinen Weg in den Widerstand nachzeichnete, sondern auch viele Zeugnisse beibrachte, die Bonhoeffers überlegene Souveränität und Menschlichkeit unter den schwierigsten Bedingungen im Gefängnis und noch im Gang zum Galgen beschrieben.

Zurückhaltung des Interpreten

Es machte zugleich die Stärke und das Problem des grossen Bonhoeffer-Buches von Bethge aus, dass er als Biograf nicht nur engster Freund und Weggefährte war, sondern auch als privilegierter und engagierter Interpret in die theologisch grundlegend veränderte Situation der sechziger Jahre hineinwirken und als aktiver «Übersetzer» vermitteln wollte. Umgekehrt scheint es die Stärke und zugleich das Problem der neuen Bonhoeffer- Biografie Ferdinand Schlingensiepens auszumachen, dass er diese Position des starken Interpreten vermeidet und sich, was die Vermittlung in einer wiederum neuen theologischen und religiösen Landschaft betrifft, Askese auferlegt. Erfolgreich war sein asketischer Impuls im Hinblick auf den Umfang: Auf knapp 400 Textseiten gelingt ihm eine gleichmässig vorwärts eilende Lebensbeschreibung Bonhoeffers, in welche neue Dokumente eingearbeitet sind und dabei die so wichtigen zeitgeschichtlichen Kontexte dennoch nicht zu kurz kommen.

Vom Grossbürgertum zum Widerstandskampf

Anschaulich wird das Leben Bonhoeffers beschrieben, die Jugendjahre im Schoss einer grossbürgerlichen Familie Berlins, die theologischen Studien im Rahmen des dortigen gemässigten Liberalismus, seine Auslandsaufenthalte in Spanien, den USA und England, sein Engagement für die frühe ökumenische Bewegung und schliesslich seine Begegnung mit Karl Barth, welche sein Denken so grundlegend veränderte. Naturgemäss ausführlicher geschildert werden die Jahre nach der «Machtübernahme» der National-sozialisten, Bonhoeffers Widerstand gegen die Gleichschaltung der Kirche sowie seine Leitung des verbotenen Predigerseminars Finkenwalde, schliesslich die Zeit der Konspiration, der Haft und die dramatischen letzten Tage, als fanatische SS-Schergen noch im Chaos des Kriegsendes alles mobilisierten, um dem Hinrichtungs-befehl des Führers nachzukommen.

Spannungen zu wenig ausgelotet

Bei diesen Schilderungen kommt die Beschreibung der theologischen Werke und Gedankenfragmente Bonhoeffers zu kurz. Eine nicht unbedingt mit grösserer Ausführlichkeit zu bezahlende Chance hätte es sein können, wenn der Biograf gegenüber Bethges tendenziell glättender, interpretativ modernisierender «Übersetzung» seinen Blick auf die Brüche, das Spannungsvolle und auch Problematische in Bonhoeffers Denken gerichtet hätte. Um nur ein Beispiel zu geben: Die sorgfältige und kritische Untersuchung Klaus Kodalles (NZZ 17. 3. 92), welche bei Bonhoeffer theologisch wie auch politisch autoritätsaffinen Züge – eine fast vollständige Privilegierung des Kollektiven vor dem Individuellen – aufzeigte, taucht bei Schlingensiepen weder explizit noch implizit auf. Hier schwächt die Zurückhaltung des Autors seine Perspektive, nimmt ihr etwas von der Spannung, die in der Beschäftigung mit dieser ausserordentlich eindrücklichen Gestalt des Protestantismus hätte fruchtbar sein können. Es ist dies eine Schwäche eines sonst ausgezeichneten Buches.

 

Niklaus Peter, Original aus: NZZ, 18. 10. 2005

Niklaus Peter ist Pfarrer am Fraumünster und Programmleiter des TVZ