Leben und Werk Dietrich Bonhoeffers

Bonhoeffers Verehrer sind kaum unter einen Hut zu bringen. Gar viele verehren ihn. Rechte und Linke, Frömmler und Revolutionäre, Positive und Liberale. Wie kommt das? Von Eberhard Busch

Von der Zwillingsschwester Dietrich Bonhoeffers, Sabine, mit ihm am 4. Februar vor 100 Jahren geboren, habe ich gelesen: er sei „in der Westminster Abbey in London ... in Stein gemeißelt“ zu sehen „neben Martin Luther King als wichtigste Märtyrer des 20. Jahrhunderts“. In diesem Bild des „wichtigsten Märtyrers“ ist Dietrich Bonhoeffer auch in das Herz Vieler gemeißelt und leuchtet sein Name so hell, dass darüber andere christliche Märtyrer in der Nazi-Zeit fast in Vergessenheit geraten sind: wie Paul Schneider im KZ Buchenwald oder Helmut Hesse im KZ Dachau. Ich entsinne mich, wie ich vor bald 50 Jahren von meinem Bruder das Buch geschenkt bekam mit den Briefen dieses Theologen, die er in seiner letzten Zeit im Berliner Gefängnis geschrieben hat, als noch jüngerer Mann: „Widerstand und Ergebung“ lautet der Titel des Buchs. Und ich weiß noch, wie ich diese Briefsammlung verschlungen habe und wie es mir ein Grund war, mit Freuden Theologie zu studieren. Die prophetische Kühnheit seiner Gedanken über die Zukunft der Kirche brannte wie ein Feuer, das Experimentierende, das Fragmentarische seiner Überlegungen trieb wie von selbst zum Nachdenken und Mitdenken und Weiterdenken.

Die Verehrung, die diesem Märtyrer zuteil wird, ist weit verbreitet. Als ich an der Göttinger Universität ein Seminar über ihn ansetzte, passierte, was weder mir noch meinen Kollegen damals sonst widerfuhr: es kamen so horrend viele Studenten, dass ich den Termin der Veranstaltung verfünffachen musste. Dabei sind seine vielen Verehrer kaum unter einen Hut zu bringen. Verschiedenste von ganz rechts bis ganz links singen sein Lied: „Von guten Mächten wunderbar geborgen, erwarten wir getrost, was kommen mag“ -  Frömmler und Revolutionäre, Positive und Liberale. Martin Heimbucher schrieb in einem Buch über Bonhoeffer: Es habe 1985 eine Gedenkfeier auf dem Gelände des Konzentrationslagers Flossenbürg stattgefunden. „Während des in martialischer Schau vorgetragenen Ehrenrituals einer Bundeswehr-Formation war der Zwischenruf einer Frau aus dem Hintergrund nicht zu überhören: ‚Aber Bonhoeffer war doch Pazifist.’“ Seltsam, aber in diesem Fall haben beide Seiten recht. Und das ist längst nicht nur bei der Friedensfrage so. Und das liegt nicht etwa daran, dass viele ihre Wunschvorstellungen in diese Person hineindeuten. Auch das gibt es. Aber es liegt auch daran, dass Bonhoeffer in der Kürze seines Lebens verschiedene Vorstellungswelten durchschritten hat. – Sehen wir uns das näher an!

Bonhoeffer – Spross aus konservativem Haus

Er entstammte eben aus solchem Haus und wuchs in einem vornehm gepflegten und vielseitig gebildeten Bürgertum auf, in Berlin-Grunewald, wo damals die Hautvolee der Hauptstadt wohnte. Am Morgen fuhr der 18-jährige wie selbstverständlich zusammen mit dem berühmten Gelehrten Adolf von Harnack zur Universität. In seinem Elternhaus wuchs er mit 6 Geschwistern auf. Der Vater, ein geachteter Psychiater, und die Mutter, eine geb. von Hase, erzogen sie zu Takt, guten Sitten und Disziplin, und sie vermittelten ihnen einen umfassenden Sinn für Kultur. Er spielte virtuos Klavier, am liebsten Chopin, schätzte Gottfried Keller und  Jeremias Gotthelf, lernte mit seinen Geschwistern kultiviertes Tanzen. Ein Bekannter schrieb später über ihn: Er war „von Haus aus ein Mann der Distanz. Ich war bass erstaunt, als er mir erzählte, er habe – außer seinen Verwandten – nur einen Menschen, den er duze.“ Später, als ihm aufging, dass die Kirche eine Gemeinschaft von Brüdern und Schwestern ist, änderte er das. Die enorme Förderung, die ihm in der damaligen Weltstadt Berlin zuteil wurde, wirkte sich in ungewöhnlichen Geschwindschritten aus: Er doktorierte mit 21 Jahren, machte dann sein Vikariat in Barcelona; mit 23 Jahren bekam er die Lehr-Befugnis an der Universität Berlin. Doch ergriff er nun die Gelegenheit für ein Studienjahr in den USA, wo er mit berühmten Theologen des Landes verkehrte. 1933 wurde er Auslandspfarrer in London, wo er Freundschaft mit dem Bischof von Chichester schoss, 1935 Direktor eines Predigerseminars der so genannten Bekennenden Kirche, die nicht unbedingt den Hitlerstaat, aber die Nazi-Ideologie auf den Kanzeln ablehnte. 1939 war er zu Vorlesungen in den USA, von wo er kurz vor Ausbruch des 2. Weltkriegs nach Deutschland zurückkehrte.

Nenne ich die Atmosphäre, die ihn prägte, konservativ, so heißt das nicht, dass er durch hochfahrenden Stolz und durch Verachtung Niedrigstehender gekennzeichnet war. Geschweige, dass er dadurch zu einer sturen Beschränktheit seines Geistes angehalten war. Vielmehr gehörte zu dieser konservativen Welt auch die Bereitschaft, mit offenen Augen durchs Leben zu gehen. Jetzt genießt er die Schönheit der Welt, so wie er sich in seiner Gefängniszeit erinnert: „In meinen Fantasien lebe ich viel in der Natur .... Ich liege dann auf dem Rücken im Grase, sehe bei leichtem Wind die Wolken ziehen und höre die Geräusche des Waldes.“ Und jetzt schreibt er über seine Zeit in New York: Der „persönliche Umgang mit den Negern war für mich eines der entscheidendsten und erfreulichsten Ereignisse in meinem amerikanischen Aufenthalt ... Ich hab in den Negerkirchen das Evangelium predigen gehört.“ Hingegen warf er dem Christentum der weißen Amerikaner Zügellosigkeit vor. Zu der Welt, aus der er kam und die ihn formte, gehörte die Offenheit, sich belehren zu lassen.

Wenn ich von der ihm eingeprägten konservativen Haltung rede, so meine ich seine ihn durch all die Jahre begleitende Vorstellung: Die rechte menschliche Gesellschaft sei durch ihre Ordnung in ein Oben und ein Unten gekennzeichnet. Noch in seinen Ethik-Texten von 1940/41 lesen wir: „Das Gebot Gottes will den Menschen immer in einem irdischen Autoritätsverhältnis, in einer durch ein klares Oben und Unten bestimmten Ordnung begegnen ... Die echte Ordnung des Oben und Unten lebt aus dem Glauben an den Auftrag von ‚Oben’, an den ‚Herrn’ der ‚Herren’. Der Glaube allein bannt die dämonischen Gewalten, die von unten her aufsteigen“, von den Massen, von den Proletariern. Ja, im Gefängnis Tegel schreibt er: „Wir brauchen wieder eine echte Oberschicht ... Wir, wir müssten es sein, die sich an die Spitze stellen ..; denn wir wissen ..., was wir wollen. Und weil die meisten träge und feige sind, darum muss es Herren und Knechte, ja ich möchte wirklich fast sagen: Sklaven geben.“ Die Vorstellung ist wohl die: In der Hitlerei hat sich das Proletariertum gegen das gesellschaftliche Oben, die Gosse gegen die Adligen erhoben. Dieser Aufstand muss beseitigt werden. Darum ließ Bonhoeffer bei seiner Schwedenreise 1942 den Engländern ausrichten: Er meine, es sei nach der Beseitigung Hitlers in Deutschland wieder der Kaiser einzusetzen.

Man sieht, wie Bonhoeffer in seinen ethischen Argumenten von einer anderen Seite her kommt als sein verehrter väterlicher Freund Karl Barth, der 1934/35 als Professor in Bonn nach Basel vertrieben worden war. Als junger Pfarrer im aargauischen Safenwil hatte Barth das Recht der sogenannten Proletarier gegenüber den Herrschenden entdeckt. Damals sagte er den sozialistischen Arbeitern seiner Gemeinde: Ich bin ein Parteigänger von euch und den Armen, weil es nach meinem Glauben „nur einen solidarischen, sozialen Gott“ gibt. Nach seinem Willen muss man ein Genosse werden, „um überhaupt ein Mensch zu sein.“ Demgegenüber erklärte Bonhoeffer, „es müsse ein Oben und ein Unten unter den Menschen geben, und wer das nicht begriffe, der führe das Chaos über die Menschen ... (Und) es gebe von Natur Edle, die zum Herrschen und zur Freiheit bestimmt seien, und es gibt auch einen Pöbel von Natur, der zu dienen habe, und nichts sei ... zerstörerischer, als wenn .. der Pöbel herrscht und die Edeln dienen.“ Gewiss, so sagt Bonhoeffer dann auch, es gehöre zum Edelmut der Edlen, mit den Menschen in ihrem Unten freundlich umzugehen. Aber damit ist jene Unterscheidung näher erklärt und nicht beseitigt.

Existenz in einem bewegten Unterwegssein

Das Werk Bonhoeffers ist anders als das von Karl Barth, dem Zeit und Gelegenheit gegeben war, seine theologischen Erkenntnisse in den umfangreichen Bänden seiner Dogmatik auszubreiten. Bonhoeffers Werk ist bruchstückhaft. Viele, die sich auf ihn berufen, pflegen darum einzelne Begriffe oder Sätze aus seinen Schriften herauszupicken. Er glaubte (so schrieb er), es sei ihm verwehrt, „sich einen Lebensplan entwerfen zu können ... Damit ist es vorbei. Wir sind durch die Macht der Umstände in die Situation geraten, in der wir darauf verzichten müssen, ‚für den kommenden Tag zu sorgen’.“ Er lebte in den ungeheuren Erschütterungen des Dritten Reichs von Tag zu Tag. Und in den dramatischen Umbrüchen seiner Zeit war ihm eine unerhörte Lebendigkeit verliehen, sich auf die gewaltigen Herausforderungen einzustellen. Er ahnte es wohl, dass ihm nicht viel Zeit gelassen sein würde. Das trieb ihn zu Konzentration, aber nicht in atemlose Hektik. Er schätzte Meditationen und stille Zeiten, in der er offenbar die Kraft bekam zu seinem bewegten Unterwegssein. Er beherzigte, was Eph. 5,16 geschrieben steht: „Kaufet die Zeit aus!“ Und so durchschritt er, ja, durcheilte er innerhalb von wenigen Jahren verschiedene Auffassungen, ließ sie fallen, korrigierte sie und setzte noch einmal neu an. Er blieb in allem derselbe, aber er war er selbst in oft überraschend neuer Gestalt. Es gibt Darstellungen von ihm, nach denen er in einer wunderbaren Überlegenheit zu allen Problemen im Voraus zeitlos gültige Stellungnahmen in Wort und Tat parat hatte. Ich finde viel aufregender zu sehen, wie dieser ja blutjunge Mann, der 39 Jahre alt wurde, zu vielem durchaus nicht sogleich die passende Lösung wusste, wie er dann aber bald dazu lernte und umdachte und sich verbesserte und zu neuen Ufern aufbrach. Dadurch hat sein Profil Kanten, die man nicht wegradieren sollte, um einen uns genehmen „Bonhoeffer“ zu haben. Diese Art, in der er jetzt so und jetzt anders pointiert redet, jetzt seinen Weg als Sackgasse erkennt und jetzt noch einmal neu ansetzt, - diese Art nötigt uns, selber zu denken und selber die heute fälligen Entscheidungen zu treffen. Doch dabei lohnt es sich, mit ihm ein Zwiegespräch zu führen und nach biblischem Rat alles zu prüfen und das Beste zu behalten. Ich will sein Unterwegssein an zwei Beispielen zeigen.

Zunächst zu dem ihm wichtigen Thema von Krieg und Frieden. 1928/29 sagte er in einem Kurs: Im Krieg steht der Christ in einem Konflikt, vor dem auszuweichen eine Schwärmerei sei. Es ist der Konflikt zwischen Feindesliebe und Nächstenliebe. Liebt er den Feind, so gibt er seine Nächsten dem Feind preis. Dagegen muss ein Christ sagen: „Gott hat mich meiner Mutter, meinem Volke gegeben; was ich habe, danke ich diesem Volk; was ich bin, bin ich durch mein Volk, so soll auch, was ich habe, ihm wieder gehören.“ Darum muss ich im Krieg für mein Volk gegen den Feind kämpfen. Noch 1933 schrieb Bonhoeffer: Die Kirche weiß „um die wesenhafte Notwendigkeit der Gewaltanwendung in dieser Welt und um das mit der Gewalt notwendig verbundene moralische Unrecht bestimmter konkreter Akte des Staates.“ Ein Jahr später war aber nun eine ökumenische Konferenz in Fanö in Dänemark unter dem Thema: „Arbeit der Kirche für den Frieden“ mit dem Ziel der „Überwindung des Krieges“. Bonhoeffer nahm daran teil als Jugendsekretär des Weltbundes für Freundschafts-Arbeit der Kirchen. In einer Andacht rief  hier nun auch er auf einmal dazu auf: „Friede auf Erden“ ist göttliches Gebot. Das verlangt „unbedingten, blinden Gehorsam“ von den Christen. Es ist zu befolgen, auch wenn deshalb „der Weg ans Kreuz führt“. Denn Gott hat „gesagt, dass Friede sein soll unter den Menschen.“ Und dieser Friede bricht an, indem Christus in der Kirche Menschen zu Brüdern verbindet über alle Grenzen hinweg. - Merkwürdig, dass nach Ausbruch des 2. Weltkriegs von Bonhoeffer dazu jedoch wieder anderes zu hören ist. Er ging nun einfach davon aus, dass Krieg ist und seine deutschen  Freunde an der Front schießen. Er schrieb ihnen: Es erscheine ihm die Zeit vergeudet, in der „er nicht die ungeheure Erfahrung des Krieges in vorderster Front teilen kann.“ Oder: Er wünscht ihnen „mitten in dem Unfrieden der Welt ‚ein stilles und ruhiges Leben zu führen in aller Gottseligkeit’.“ Oder: Wenn sie täglich mit Christus sterben und ihrem eigenen Willen absterben, so bereiten sie sich vor „für den letzten Ruf“ in ihrem Soldatentod. Ja, 1940/41 schrieb er in seinem Ethik-Fragment: „Willkürlich ist ... nicht die Tötung des Feindes im Kriege ... Willkürlich ist ... auch nicht die Tötung von Zivilpersonen im Kriege.“ Das sind in kurzer Zeit verwirrend verschiedene Stellungnahmen zur Frage von Krieg und Frieden. An welche soll man sich da halten? Es handelt sich wohl auch um Selbstkorrekturen. Sie zeigen aber auch seine Beweglichkeit, sich auf das zu konzentrieren, was seiner Meinung nach jeweils den Adressaten zu sagen war.

Ein anderer Punkt: sein Stellung zum Verhältnis der Christen zu den Juden. Man hat lange Zeit ein brauchbares Kapitel zu diesem Thema im sogen. Betheler Bekenntnis vom Sommer 1933 dem prophetischen Geist Bonhoeffers zugeschrieben. Dabei konnte man schon lang wissen, dass dieser Text von dem Basler Wilhelm Vischer geschrieben war. Bonhoeffer selbst war hierbei vor allem dies wichtig, dass die getauften Juden für Christen gleichberechtigte Mitchristen sind. In der von ihm mit herausgegebenen Zeitschrift gebildeter Nationalsozialisten „Der Vormarsch“ schrieb er im Juni 1933 einen Aufsatz „Die Kirche vor der Judenfrage“. Darin unterscheidet er zwischen solchen, die biologisch Juden sind, und solchen, die religiös Juden sind, d.h. die gesetzlich denken. Auch wenn ein Jude biologisch stets ein Jude bleibe, könne er von seinem religiösen Judesein befreit werden: wenn er ein Christ wird. Im eventuellen Fall eines gesetzlosen Vorgehens gegen Juden oder beim Verbot christlicher Judenmission müsste daher der Obrigkeit widerstanden werden, müsse man „dem Rad in die Speichen fallen“, wie Bonhoeffers vielzitierte Formulierung lautet. Denn dieses auserwählte Volk, „das den Erlöser der Welt ans Kreuz schlug, (muss) in langer Leidensgeschichte den Fluch seines Tuns tragen“, und es wird davon erlöst erst „in der Bekehrung Israels zu Christus“. Bonhoeffer hat wohl selber gemerkt, dass das keine Hilfe für das tödliche bedrohte Volk Israel war. Jedenfalls schrieb er 1940/41 darüber auf einmal ganz anders – nämlich: „Weil Jesus Christus der verheißene Messias des israelitisch-jüdischen Volkes war, darum geht die Reihe unserer Väter hinter die Erscheinung Jesu Christi zurück in das Volk Israel. Die abendländische Geschichte ist nach Gottes Willen mit dem Volk Israel unauflöslich verbunden ... Eine Verstoßung der Juden aus dem Abendland muss die Verstoßung Christi nach sich ziehen; denn Jesus Christus war Jude.“ Welch ein Wandel der Sicht und Einstellung! Bonhoeffer war ein Christ, der für derlei Überraschungen gut war. Um ihn zu kennen, muss man auch seine Bereitschaft zu Neueinsätzen und Selbstkorrekturen kennen.

Bonhoeffer – und der Ruf in die Nachfolge Jesu

Was ich bisher zu Bonhoeffer sagte, über seine Herkunft und seine Bewegtheit, das ist zwar auch richtig. Aber es bliebe an der Oberfläche, wenn jetzt nicht ans Licht tritt, was das Innerste dieses Christen war: der Ruf Jesu in seine Nachfolge. 1938 schrieb er: „Wir müssen bereit werden, uns von Gott unterbrechen zu lassen.“ Der Ruf in die Nachfolge unterbricht den gewohnten, den von sonstigen Faktoren bestimmten Lebenslauf, auch den von Bonhoeffer, unterbricht ihn so, dass es nun heißt, wie es Paulus 1. Kor. 9,16 von sich sagt: „Ein Zwang liegt auf mir; wehe, wenn ich das Evangelium nicht verkündige!“ Bonhoeffer hat als 31jähriger ein Buch mit dem Titel „Nachfolge“ vorgelegt. Als der fast 70jährige Karl Barth in seiner Dogmatik über dasselbe Thema handelte, schrieb er das Außergewöhnliche: Bonhoeffer hat gerade diese „Sache so tief angefasst und so präzis behandelt, dass ich wohl versucht sein könnte, sie hier einfach als großes Zitat einzurücken, weil ich wirklich nicht der Meinung bin, etwas Besseres dazu sagen zu können, als da gesagt ist: von einem Mann, der die Nachfolge, nachdem er über sie geschrieben, auch persönlich und mit der Tat bis zum Ende wahr machen wollte und in seiner Weise wahr gemacht hat.“

In seinem Buch „Nachfolge“ stellt er sich kritisch gegen ein protestantisches Kirchentum, in dem das hohe Wort von der Gnade Gottes verkommen ist zu einer „billigen Gnade“: „Gnade als Schleuderware“, „Gnade ohne Preis“. Dagegen stellt er „die teure Gnade“ – teuer ist sie, „weil uns nicht billig sein kann, was Gott teuer ist“, „teuer ist sie, weil sie in die Nachfolge ruft.“ Bonhoeffer entdeckt, dass der Ruf in die Nachfolge nicht die Aushändigung eines Programms oder Ideals ist, sondern „etwas schlechthin Inhaltloses“, nichts, das wir von Christus losgelöst haben können. Er sagt: dieser Ruf ist nichts als unsere „Bindung an die Person Jesu Christi allein“. „Ein Christentum ohne den lebendigen Jesus Christus bleibt notwendig ein Christentum ohne Nachfolge, und ein Christentum ohne Nachfolge ist immer ein Christentum ohne Jesus Christus.“ Ist es aber ein Christentum mit Christus, dann ist es ein Leben, das herausgerufen ist aus vorherigen Selbstverständlichkeiten. Und Bonhoeffer schreibt: „Die Brücken [hinter uns] werden abgebrochen, und es wird einfach vorwärtsgegangen.“ Vorwärtsgegangen! – d.h. wir haben dann ein Bestimmtes zu tun. Was denn? Gewiss haben wir darüber nachzudenken. Aber Bonhoeffer betont: ich kann nicht im Voraus überlegen, wie ich zu handeln habe, und dann erst mit der Nachfolge beginnen. Sondern auch dieses Nachdenken muss bereits Vollzug der Nachfolge sein. Mit seinen Worten: „Was Gehorsam ist, lerne ich allein im Gehorchen.“ Eben das nennt er den „einfältigen Gehorsam“. Einfältig heißt hier nicht: töricht, heißt auch nicht: unreflektiert. Einfältig heißt: Niemals heraustreten aus dem Gehorsam gegen den vorangehenden Christus. Man kann hier also nicht den Ruf Christi und sein Gebot sich solange zurechtlegen, bis man am Ende gar nicht mehr ihm folgt, sondern seinen eigenen Wünschen.

Was Bonhoeffer uns mit dem Schlüsselwort „Nachfolge“ zu sagen hat, beleuchte ich nun näher unter 5 Gesichtspunkten:

  1. Nachfolge heißt: Jesus Christus nachfolgen, so wie er uns in der Heiligen Schrift bezeugt wird.

Bonhoeffer sagt 1939: „Gottes Sprache in Jesus Christus begegnet uns in der Heiligen Schrift“. Dass er darum unbedingt ein Schrifttheologe sein wollte, das hat man oft zu wenig beachtet. Und interessant ist, wie er mit der Bibel umging – unter Verzicht auf deren historisch-kritische Auslegung, vielmehr in einem meditativ-betenden Umgang mit ihr als dem Christuszeugnis in beiden Testamenten – das Alte Testament wurde ihm immer wichtiger: als Zeugnis gegen Jenseitsflüchtigkeit . Und das nicht nur in seinen Predigten, das auch in seinem theologischen Unterricht! 1933 erschien seine Schrift „Schöpfung und Fall“, eine Auslegung der ersten Kapitel der Bibel. Er sagt dort: Darin ist der Mensch Ebenbild Gottes, dass er frei ist, und zwar wie Gott frei für den Menschen, so der Mensch frei für den Mitmenschen, frei im Gegenüber, im Miteinander und im Aufeinander-Angewiesen-sein im Verhältnis zu dem Anderen. Das Buch „Nachfolge“ von 1937 besteht in der Hauptsache aus einer Auslegung der Bergpredigt Jesu in Mt. 5-7. Dort steht der vielen ärgerliche Satz Jesu: „Ihr sollt dem Bösen nicht widerstehen“. Bonhoeffer sagt dazu: es geht hier nicht um die Verharmlosung des Bösen, sondern um seine Überwindung. Das Böse wird ohnmächtig, wenn es in uns das nicht findet, was es bestätigt: nichts wiederum Böses. Dieses Problem greift Bonhoeffer erneut auf in seiner Auslegung von Psalmen 1939. Er fragt hier: Wie sind denn die vielen Rachepsalmen zu verstehen? So, antwortet er: so, dass wir durch die Vollstreckung der Rache Gottes am Kreuz Christi hindurch die Liebe Gottes glauben und darum den Feinden vergeben.

  1. Nachfolge heißt nach Bonhoeffer: Christus nachfolgen in seiner Gemeinde.

Es ist kein Widerspruch dagegen, sondern der Schlüssel zum Verständnis dieses Satzes, wenn wir freilich bei ihm lesen: „Der Ruf Jesu in die Nachfolge macht den Jünger zum Einzelnen ... Christus will den Menschen einsam machen, er soll nichts sehen als den, der ihn rief.“ Denn was ist der Sinn dieses Eingriffs Jesu in unser Leben? Bonhoeffer antwortet: Wir müssen lernen, Christus ist der Mittler zwischen Gott und Mensch und zugleich auch zwischen Mensch und Mensch. Wörtlich: „Es gibt für uns keinen Weg zum Anderen mehr als den Weg über Christus.“ Nur über ihn ist der Weg zum Anderen geöffnet, aber in ihm führt der Weg genau zum Anderen hin. Nachfolge ist etwas anderes als: eine Religion haben. Das Problem von Religion ist nach Bonhoeffer, dass sie auf ein Jenseits fixiert ist und daher ohne den Mitmenschen auskommt. Wieder wörtlich: „Ebenderselbe Mittler, der uns zu Einzelnen macht, ist damit auch der Grund ganz neuer Gemeinschaft. Er steht in der Mitte zwischen dem anderen Menschen und mir.“ Das heißt: wir können nun unsere Nächsten nicht mehr sehen, beurteilen und behandeln im Licht unserer Meinungen und Vorurteile, sondern allein im Licht unseres gemeinsamen Versöhners Jesus Christus. Ich denke, verfahren wir dem gemäß, dann werden wir wohl erstmals das Wort Jesu recht verstehen: „Einer ist euer Meister, Christus, ihr aber seid alle (Geschwister)“ (Mt. 23,8). Durch ihn existiert die Gemeinde der Geschwister, und durch ihn wird sie zusammen gehalten. Ich nehme an, dass in diesem Sinn Bonhoeffers Formel zu stehen ist: Christus als Gemeinde existierend. D.h. nicht, dass sie sich mit ihm gleichsetzen darf, aber d.h. dass er sie zu seiner Gemeinde macht.

  1. Nachfolge heißt: Christus nachfolgen in seinem Dasein für Andere.

Die durch ihn versammelte Gemeinde ist wesentlich nicht für sich selbst da. Sondern wie Bonhoeffer im Gefängnis schrieb: „Kirche ist nur Kirche, wenn sie für andere da ist.“ Das ist ein Satz, den eine christliche Gemeinde gar nicht genug beherzigen kann. Sie muss es, weil sie sich sonst von Christus lösen würde. Betet sie wie er und mit ihm, dann ist sie dadurch mit ihrer Mitwelt verbunden. 1933 hielt Bonhoeffer in Berlin eine Vorlesung über das Thema: Wer ist und wer war Jesus Christus? Das Überraschende darin ist sein Beginn mit der Frage: Wer ist Jesus Christus? Also nicht umgekehrt: erst „wer war er historisch?“, und dann, was kann er vielleicht auch noch heute bedeuten. Zuerst fragt er: Wer ist er?  Seine Antwort darauf lautet: „Sein Christus-Sein ist sein pro-me-Sein“, d.h. sein Sein für mich, für uns, für Andere. Und sind wir in seiner Gemeinde, dann kann es gar nicht anders sein: dann leben wir mit ihm auch für Andere. Allerdings, das lässt sich nach Bonhoeffer nicht einfach so sagen, ohne dass die Kirche ihre Sünde, ihren Abfall von Christus und von seiner Sendung bekennt. 1940 schrieb er solch ein Schuldbekenntnis: „Die Kirche bekennt, die willkürliche Anwendung brutaler Gewalt, das leibliche und seelische Leiden unzähliger Unschuldiger, Unterdrückung, Hass und Mord gesehen zu haben, ohne ihre Stimme für sie zu erheben, ohne Wege gefunden zu haben, ihnen zu Hilfe zu eilen. Sie ist schuldig geworden am Leben der schwächsten und wehrlosesten Brüder Jesu Christi.“ Sie „bekennt, Beraubung und Ausbeutung der Armen, Bereicherung und Korruption der Starken stumm mit angesehen zu haben.“ Aber Bonhoeffer glaubt nun, dass eine derart bußfertige Kirche, die ihr Angewiesensein ganz auf Gottes Vergebung bekennt, bereits in der Vergebung zu leben beginnt. Und tut sie das, so ist ihr gesagt, was er seit 1934 häufig aus Sprüche 31,8 zitiert: „Tue deinen Mund auf für die Stummen“, tue ihn auf also für die, die sich nicht selbst wehren und nicht für sich selbst eintreten können, und tue ihn so auf, dass es gehört wird.

  1. Nachfolge heißt: Christus nachfolgen in seinem Gang ans Kreuz.

Bonhoeffer betont das, lange bevor seine Hinrichtung unausweichlich wurde. Nicht dass Nachfolger Christi noch einmal dasselbe zu erleiden haben wie ihr Meister! Aber doch gibt es für sie ein „Leiden, das aus der Bindung an Jesus Christus allein erwächst“. Bonhoeffer fügt dem 1937 hinzu: „Eine Christlichkeit, die die Nachfolge nicht mehr ernst nahm ..., musste das Kreuz als das tägliche Ungemach“ umdeuten. Aber das hier gemeinte Kreuz ist ein „an das Christsein gebundenes Leiden“, es folgt aus der Zugehörigkeit zu Christus. Dabei hat dieses Leiden „für jeden ein anderes Maß. Den einen würdigt Gott großer Leiden, er schenkt ihnen die Gnade des Martyriums, den anderen lässt er nicht über seine Kraft versucht werden. Doch es ist das Eine Kreuz“, das unvermeidlich zum Christsein gehörende Leiden. Im Gefängnis schrieb Bonhoeffer, dass Christusnachfolger solchem Leiden nicht ausweichen können, oder sie hören überhaupt auf, Christusnachfolger zu sein. Doch – fuhr er fort: „Ich glaube, dass Gott uns in jeder Notlage soviel Widerstandskraft geben will, wie wir brauchen. Aber er gibt sie nicht im Voraus, damit wir uns nicht auf uns selbst, sondern allein auf ihn verlassen. In solchem Glauben müsste alle Angst vor der Zukunft überwunden sein.“ Bonhoeffer hat dieses Kreuz besonders hart zu tragen bekommen: in den unsäglichen Demütigungen, die ihn während der zweijährigen Gefängniszeit erniedrigt haben, bis hin zu seiner Hinrichtung am 9. April im Konzentrationslager Flossenbürg.

     5. Nachfolge heißt, in der Nachfolge Christi sich für neue Horizonte öffnen.

Nicht über ihn hinausgehen, aber mit ihm hinausschreiten! Dabei beziehe ich mich jetzt auf die letzten zwei Jahre von Bonhoeffers Leben, als er wegen seiner Beteiligung am Widerstand gegen das Hitlerregime im Gefängnis saß. Wir sind über diese Zeit gut informiert durch seine Briefe aus der Haft, gesammelt in dem Band „Widerstand und Ergebung“. Erstaunlich, dass, gerade als die Behausung seines Lebens furchtbar eng und bedroht wurde, sich sein Blick für neue, weite Horizonte öffnete! Ein Thema, das ihn dabei umtreibt, ist die große Dummheit der Menschen, gemeint ist nicht ein Mangel an Bildung, sondern der unverantwortliche Mangel an Menschenwürde. Diese Dummheit, schreibt er, ist schlimmer noch als das direkt Böse. Sie beruhe darauf, dass die Menschen dumm gemacht werden durch menschliche Machthaber, so dass sie denen blind gehorchen, und dabei meinen sie, doch nichts Böses getan zu haben, weil sie ja nur gehorcht haben. Man kann fragen, ob die Menschheit heute infolge ihrer Beeinflussung durch das Fernsehen nicht aufs neue unter die Knute dieses Übels geraten ist. Bonhoeffer sagt: An die Stelle der Zivilcourage treten dabei die Schlagworte, und von solcher Dummheit kommt niemand durch Belehrung los, sondern nur durch Befreiung. Aber das glaubt er und darauf trotzt er: Christus schafft solche Befreiung. Und wem sie zuteil wird, der lebt seine Befreiung dann in der Ausübung von Verantwortung. Bonhoeffer hat davon so stark gesprochen, dass ihm nun sogar sein eigenes Buch über die „Nachfolge“ als eine Engführung erscheinen konnte. Er stellt jetzt richtig, dass es jedenfalls nicht darum gehen kann, auf dem Weg der Nachfolge ein heiliges Leben neben und jenseits der wirklichen Welt zu führen. Vielmehr führt der Weg des Christen, eben doch in der Nachfolge Christi, ins Diesseits, und es will die Nachfolge nicht an den Rändern des Lebens, bei seinen dunklen Rätseln vollzogen sein, sondern in der Mitte des Lebens. Und die Mitmenschen sind dabei nicht an ihren schwachen Seiten zu packen, sondern in ihren starken Seiten ernst zu nehmen. Das ist die radikale Spitze der späten Erkenntnis Bonhoeffers.

Ich schließe, indem ich auf ein besonderes Problem zu reden komme. In seinen Gefängnis-Briefen hat er die Ansicht geäußert, wörtlich: „Wir gehen einer völlig religionslosen Zeit entgegen; die Menschen können einfach, so wie sie nun einmal sind, nicht mehr religiös sein.“ Und damit verband sich für ihn die Erwartung: „Alles Denken, Reden und Organisieren in den Dingen des Christentums muss neugeboren werden.“ Man kann fragen: Hat sich Bonhoeffer nicht in beiden Hinsichten geirrt? Es sieht heute doch eher so aus: Es ist über die Menschheit, auch in unseren Breiten, eine neue religiöse Welle gekommen, ein vielseitiges religiöses Interesse, das unbewusst oder bewusst ohne christliche Gedanken auskommt. Ist man nicht christlich, so glaubt man doch: mit fernöstlicher Vertiefung an sich selbst, an die vergötterte Technik oder an Gott Fußball. Und das Denken, Reden und Organisieren des Christentums ist dabei nicht gerade neugeboren worden, sondern ist vielfach bemüht, sich dieser neuen religiösen Welle anzupassen und ihr eine billige Gnade anzupreisen. Es komme darauf an, den Menschen „Riten“ zu bieten, hört man landauf, landab unter Pfarrern sagen. Das alles ist anders, als es sich Bonhoeffer gedacht hat. Und doch würde ich mich scheuen zu sagen, dass seine Erkenntnis darum überholt ist. Ich bin allerdings sicher, dass er auf dieser allgemeinen religiösen Welle nicht mitschwimmen würde. Ich bin sicher, er würde auch in der Situation, die anders als gedacht eingetreten ist, uns noch einmal erst recht wie mit langem Finger hinweisen auf den, der uns in seine Nachfolge ruft. Und das würde bedeuten, dass sich die Gemeinde Jesu Christi nicht diesem merkwürdigen religiösen Zeitgeist anzupassen hat. Sie hat demgegenüber in der Nachfolge Jesu auf jeden Fall ihren eigenen Weg zu gehen. Sie hat dabei immer noch zu lernen, dass dieser Jesus wohl auch heute vorbeigeht an den Frommen und Religiösen, auf seinem Weg mitten in die Welt zu den Zöllnern und Sündern. Bei diesem Lernen wird uns Dietrich Bonhoeffer heute ein vorbildlicher Helfer sein.

 

Eberhard Busch ist emeritierter Professor für systematische Theologie und Leiter der Karl-Barth-Forschungsstelle n der Universität Göttingen.

Der Vortrag wurde anlässlich der Gedenkveranstaltung zum 100. Geburtstag von Dietrich Bonhoeffer, am 29. Januar 2006, in der Markuskirche von Zürich-Seebach gehalten.