Gegen die Verächter des Leibes

Was Dietrich Bonhoeffer, der vor hundert Jahren geboren wurde, den heutigen Christen zu sagen hat. Von Jürgen Moltmann

Für Dietrich Bonhoeffer war die Ordination zum Pfarrer 1931 ebenso wichtig wie die Erteilung der Lehrerlaubnis für die theologische Fakultät der Berliner Universität. Sein Freund und Autobiograph Eberhard Bethge beschreibt das als "die Wendung des Theologen zum Christen". Das heißt, die Kirche wurde in jenen Jahren für Bonhoeffer aus einem Gegenstand akademischer Theologie, "Ekklesiologie" genannt, zum Ort des eigenen, engagierten Christseins.

Hitlers Machtergreifung 1933, der Kampf der Bekennenden Kirche gegen die "Deutschen Christen" der Nazis, die Judenverfolgung und die militärische Aufrüstung machten die Theologie für Bonhoeffer dann aus einer akademischen und kirchlichen Sache zu einer persönlichen und politischen Notwendigkeit. Von nun an gehörten Theologie und Biographie für ihn in einer gelebten Theologie zusammen.

1933 brach er seine akademische Karriere ab, denn auch die theologischen Fakultäten an Deutschlands Universitäten wurden von der Nazi-Partei "gleichgeschaltet". Jetzt begann Bonhoeffer zu leben, was er theologisch erkannt hatte, und theologisch zu durchdenken, was er in seinem Leben zu entscheiden hatte. Seine persönliche Existenz wurde zu einer theologischen Existenz. Und seine Theologie wurde zunehmend eine politische Theologie, weil sein persönliches Leben politisch herausgefordert wurde.

Damit stehen wir am Tor zu dem faszinierenden Geheimnis der Wirkung Dietrich Bonhoeffers. Es ist seine bis zum Martyrium am 9. April 1945 im KZ Flossenbürg authentisch gelebte Theologie. Sie überzeugt Menschen über die Zeiten und Räume hinweg, in Korea ebenso wie in Nicaragua, um nur zwei entfernte Länder zu nennen.

Bonhoeffer war 39 Jahre alt, als er hingerichtet wurde. Von 1933 bis zu seiner Gefangennahme 1943 hatte er gerade einmal zehn Jahre, um in jenen schwierigen und gefährlichen Zeiten seine Theologie zu entwickeln. Wer die "Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft" vom April 1943 bis zum Oktober 1944 liest, nimmt an einer Theologie im Werden teil und wird durch ihre unfertigen Gedanken zum eigenen Denken angeregt. Das ist in der Theologie einzigartig und macht die großartige Anziehungskraft und Bonhoeffers nachhaltige Wirkung aus. Er hat uns kein Lehrsystem und keine Dogmatik hinterlassen, sondern gelebte Theologie und Theologie im Werden.

Leben – nicht Religion

In der Enge der Gefängniszelle wurden Bonhoeffers Gedanken so weit wie nie zuvor. Sein Blick wendete sich von der Kirche zur Welt. Er entdeckte die Freiheit der säkularen Welt, die Würde des irdischen Lebens, die eigene Botschaft des Alten Testaments, die Schönheit der Erde und die Lust am diesseitigen Leben. Glaube ist für Bonhoeffer "etwas Ganzes, ein Lebensakt". Denn: "Jesus ruft nicht zu einer neuen Religion, sondern zum Leben."

Bonhoeffer interessierte nun plötzlich die "natürliche Frömmigkeit" und das "unbewusste Christentum", jenes nicht besonders kirchliche, aber gelebte Christentum seiner eigenen Familie. Erst in der "vollen Diesseitigkeit, des Lebens" wollte Bonhoeffer "glauben lernen". Er meinte damit nicht die "platte und banale Diesseitigkeit" der Aufgeklärten und Bequemen, sondern eine Diesseitigkeit, "in der die Erkenntnis des Todes und der Auferstehung immer gegenwärtig ist".

Bonhoeffer kämpfte in seiner Gefängniszelle gegen das Religiöse auf Kosten des Weltlichen und gegen eine Spiritualität auf Kosten der Vitalität. Glauben hieß für ihn, das Leben bis zum Tod zu bejahen und zu lieben und damit an der Liebe Gottes zu der Welt teilzunehmen, die auch das Leiden Gottes an dieser Welt umfasst. Er erkannte in Christus die Gotteswirklichkeit in der Weltwirklichkeit.

Bonhoeffer überwand das traditionelle theologische Denken in zwei Räumen oder in den Gegensätzen von Gott und Welt. Er wollte in der vollen "Polyphonie des Lebens", in der Schönheit, der Lust und dem Schmerz des Lebens glauben. Er liebte das Hohelied der Liebe im Alten Testament und hasste die christliche Temperierung aller Leidenschaften.

Er vertiefte sich in die wilden Gegensätze von Lust und Fluch, die das wirkliche Leben ausmachen und fügte den musikalischen Kontrapunkt in seine neue theologische Dramatik ein. Ist der Glaube der "cantus firmus", dann fügen sich auch die Kontrapunkte in die Polyphonie des Lebens ein: "Wenn man in dieser Polyphonie steht, dann wird das Leben erst ganz, und zugleich weiß man, dass nichts Unheilvolles geschehen kann, solange der 'cantus firmus' durchgehalten wird."

Weil Gott "mitten im Leben jenseitig" ist, muss der Glaube mitten im Leben ergriffen werden. Die Kirche muss mitten im Dorf bleiben, und darf sich nicht an den Rand des Lebens und auf die Friedhöfe abdrängen lassen.

Bonhoeffer beginnt, das Neue Testament vom Alten Testament her zu lesen. "Nur wenn man die Unaussprechlichkeit des Namens Gottes kennt, darf man auch einmal den Namen Jesus Christus aussprechen; nur wenn man das Leben und die Erde so liebt, dass mit ihr alles verloren und zu Ende zu sein scheint, darf man an die Auferstehung der Toten und eine neue Welt glauben; nur wenn man das Gesetz Gottes über sich gelten lässt, darf man wohl auch einmal von der Gnade sprechen."

Der Erde treu bleiben

Bonhoeffer beschwört seine Mitchristen, der Erde treu zu bleiben und nicht denen zu glauben, die "von überirdischen Hoffnungen reden". Sie seien "Verächter des Leibes". Einst sei der Frevel an Gott der größte Frevel gewesen. Doch "an der Erde zu freveln, ist jetzt das Furchtbarste", zitiert Bonhoeffer den Philosophen Friedrich Nietzsche.

Das hatten auch die religiösen Sozialisten der Zwanzigerjahre als Aufruf verstanden, die christliche Hoffnung neu zu orientieren und von der Jenseitshoffnung auf den Himmel zur Vorwärtshoffnung auf das kommende Reich und die neue Erde überzugehen, auf der Gottes Gerechtigkeit wohnen würde.

Auch der junge Dietrich Bonhoeffer gehörte dazu. 1932 sagte er in seinem Vortrag über die Bitte "Dein Reich komme", an das Reich Gottes glauben könne "nur, wer die Erde und Gott in einem liebt". Christus mache "den Menschen stark". Er führe ihn nicht "in die Hinterwelten der religiösen Weltflucht", sondern gebe "ihn der Erde zurück als ihren treuen Sohn".

Wer "Gott liebt, liebt ihn als Herrn der Erde, wie sie ist; wer die Erde liebt, liebt sie als Gottes Erde". Das zwinge die Kirche, die um das Reich bete, "ganz hinein auf Gedeih und Verderb in die Genossenschaft der Erden- und Weltkinder". Denn: "Gottes Reich ist das Reich der Auferstehung auf Erden."

Ich glaube, dass Bonhoeffer im Gefängnis 1943 auf diese frühe Einsicht in die Treue zur Erde zurückgekommen ist. Denn kraft dieser Treue war er ja in den Widerstand gegen das Böse auf Erden gegangen. Sie ist der theologische Grund für seine neue Sicht der "echten Weltlichkeit" des Christusglaubens. Auf dieser Erde stand das Kreuz Christi, auf dieser Erde geschah seine Auferstehung, und diese Erde wird einmal zur Wohnung der Gerechtigkeit Gottes werden.

Erlösungssehnsucht und Weltverneinung

Bonhoeffers Treue zur Erde ist revolutionär. Denn die traditionelle christliche Hoffnung ist ja eine Erlösungssehnsucht. Sie richtet sich nicht auf die Erde, sondern auf den Himmel: "Lieber Gott, mach mich fromm, dass ich in den Himmel komm", lernen kleine Kinder beten. Nach dem Tod, so sagen christliche Traueranzeigen, kommen die Frommen in den Himmel. Darin steckt eine unbewusste Weltverneinung.

Soll der Himmel wahre Heimat sein, dann wird diese Erde gleichgültig: Weil wir nicht hier bleiben können, beuten wir die Erde aus und hinterlassen Verwüstungen. Die verschiedenen Formen religiöser Weltverneinung sind für die Umweltzerstörung und die ökologischen Katastrophen der Erde heute verantwortlich. Die Umkehr vom Verrat an der Erde zur Treue ihr gegenüber steckt dagegen in der einfachen Bitte: "Dein Reich komme – wie im Himmel so auf Erden."

Bonhoeffers Erd-Frömmigkeit brauchen wir heute. Eine neue ökologische Theologie muss sich der religiösen und praktischen Weltverneinung entgegenstellen. Wir Menschen sind aus Erde genommen und gehören in Gegenwart und Zukunft zu dieser Erde, wie die Engel in den Himmel gehören. Es gibt kein Heil für den Menschen ohne das Heil der Erde, jener neuen Erde, auf der Gerechtigkeit wohnt (2 Petrus 3,13).

Wir machen heute Weltpolitik, wir brauchen aber Erdpolitik. Wir machen Weltwirtschaft, wir brauchen aber Erdwirtschaft. Wir bringen Weltreligionen in Dialog, wir brauchen aber eine Religion der Erde, die den Sabbat der Erde respektiert. Wir globalisieren und meinen Internet und cyberworld, aber der Globus ist diese wunderbare und fragile Erde. Bonhoeffer hat von der ökologischen Krise nichts gewusst. Aber seine Theologie der Treue zur Erde ist eine großartige ökologische Theologie.

Die mündig gewordene Welt 

Für den Philosophen Immanuel Kant war Aufklärung "der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit", dem "Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen". Und Kant ermutigte den Menschen, sich seines "eigenen Verstandes zu bedienen". Bonhoeffer nimmt diesen Begriff der Aufklärung auf, wenn er in seinen letzten Briefen von der "mündig gewordenen Welt" und von der "Autonomie der Welt" spricht.

Er sah eine große kulturelle Entwicklung in der Neuzeit, die zu einer mündigen Welt führt, in der man leben, denken und fühlen kann, als ob es keinen Gott gäbe. Gott als moralische, politische und naturwissenschaftliche Arbeitshypothese hatte für Bonhoeffer ausgedient. Es gehöre zur "intellektuellen Redlichkeit", diese "Arbeitshypothese" fallen zu lassen und "ohne Gott mit dem Leben fertig zu werden", stellt der Theologe fest.

Wie aber kann dann Christus der mündig gewordenen Welt begegnen? "Christus fasst den Menschen in der Mitte seines Lebens." Geht man davon aus, muss man die Mündigkeit der Welt anerkennen und den modernen Menschen an seiner stärksten Stelle mit Gott konfrontieren. Das aber fordert in einer religionslos gewordenen Welt eine "nicht-religiöse Interpretation der biblischen Begriffe".

Bonhoeffer konnte uns nicht mehr sagen, wie diese Interpretation aussehen sollte. Er hat uns aber eine höchst dialektische Formel hinterlassen: "Dass wir in der Welt leben müssen – et si deus non daretur – erkennen wir vor Gott! Gott selbst zwingt uns zu dieser Erkenntnis, … Gott gibt uns zu wissen, dass wir leben müssen als solche, die mit dem Leben ohne Gott fertig werden. Der Gott, der mit uns ist, ist der Gott der uns verlässt (Markus 15,34). Vor und mit Gott leben wir ohne Gott."

Bonhoeffer sieht hier Gott in Christus und Christus in der modernen, mündig gewordenen Welt. Den Prozess der Verdrängung Gottes aus der modernen Welt deutet er – wie der junge Hegel – christologisch als neues Golgatha: "Gott lässt sich aus der Welt herausdrängen ans Kreuz." Und in Matthäus 8,17 werde deutlich, dass Christus nicht "kraft seiner Allmacht, sondern kraft seiner Schwachheit, seines Leidens" helfe. Hier habe "wohl die weltliche Interpretation einzusetzen".

Theologische Totalinterpretation 

Das ist eine sehr kühne, eigenwillige und wohl eine der letzten theologischen Totalinterpretationen der modernen Welt als der christlichen Welt. Prüfen wir zunächst, ob die Analyse stimmt:

Menschen sind auch in der modernen Welt nur selten mündig. In der Nazidiktatur und unter der kommunistischen Herrschaft gab es keine Chance, sich seines eigenen Verstands ohne Anleitung der Partei selbst zu bedienen. Menschen wurden vielmehr extrem unmündig gehalten und durften nur die politisch-ideologisch vorgeschriebenen Sprachregelungen benutzen. Political correctness heißt das heute.

Die Deutung der Neuzeit als "mündig gewordene Welt" überträgt die persönlichen Entwicklungsstufen eines Menschen auf die Entwicklung der Menschheit: Mit 18 Jahren wird man mündig, vorher war man unmündig  und brauchte einen Vormund. Diese Übertragung gehört in den modernen Fortschrittsglauben, der die Vergangenheit zur kindlichen Vorstufe seiner eigenen Reife erklärt. Das aber geht nicht. Unsere Vorfahren in Antike und Mittelalter waren nicht unmündiger oder mündiger als wir.

Nach der vielfältigen Religionskritik im 19. Jahrhundert sind wir am Beginn des 21. Jahrhunderts keineswegs in ein "religionsloses Zeitalter" eingetreten, sondern vielmehr von religiösem Terror bedroht und antworten mit religiöser Erlösungssehnsucht.

Wir schließen daraus: Es heißt nicht, dass wir alle wieder religiös werden müssen, bevor wir Christen werden können. Denn es gibt nicht nur ein religiöses Christentum, es gibt auch ein nichtreligiöses Christentum. Für beide gilt Bonhoeffers Satz: "Christus hat keine neue Religion in die Welt gebracht, sondern neues Leben." Es geht um dieses ganze, geliebte, geheilte und gerechtfertigte Leben, das Christus erschließt, um die Fülle des Lebens hier und das ewig lebendige Leben dort.

Im Zusammenhang von Bonhoeffers Deutung der "mündig gewordenen Welt" fällt das Wort vom "leidenden Gott". Es ist nach meiner Kenntnis in der gesamten deutschen Theologie des 19. und 20. Jahrhunderts einzigartig. In Deutschland tauchte dieser Gedanke nur beim Philosophen Georg F. W. Hegel auf, während es in England eine umfangreiche Diskussion über die Leidensfähigkeit Gottes gab.

Der mitleidende Gott

Bonhoeffer spricht vom "Leiden Gottes an der gottlosen Welt", vom "Leiden Gottes im weltlichen Leben", vom "messianischen Leiden Gottes in Jesus Christus". Und er sagt dann im Gedicht: "Menschen gehen zu Gott in seiner Not, finden ihn arm, geschmäht, ohne Obdach und Brot, sehen ihn verschlungen von Sünde, Schwachheit und Tod, Christen stehen bei Gott in Seinem Leiden."

Das Leiden Gottes ist aber nicht exklusiv auf Christus beschränkt, sondern umfasst zugleich die gegenwärtige, gottlose Weltsituation, es ist das Leiden Gottes an der gottlosen Welt und das Leiden Gottes in ihr. Wie das Gedicht sagt, leidet Gott an der Gottlosigkeit der Gewalttäter und in der Verlassenheit ihrer Opfer, "arm, geschmäht, ohne Obdach und Brot".

Auch im Neuen Testament sind die Leiden Christi nicht exklusiv Jesu Leiden, auch der Apostel nimmt an ihnen teil und sie reichen bis in die Leiden dieser Zeit hinein (Römerbrief 8,18). Aus den Erfahrungen von Krieg, Vernichtung und Massenmord ist nach dem Zweiten Weltkrieg eine neue Kreuzestheologie entstanden. Unbewusst und bewusst wurde an Bonhoeffers Botschaft aus der Gestapo-Zelle angeknüpft: "Nur der leidende Gott kann helfen." Und damit wurde die Metaphysik einer leidensunfähigen, apathischen Gottheit verworfen, die das Christentum lange geprägt hatte.

Der durch sein Leiden helfende Gott ist nicht der unberührbare Souverän im Himmel, der alles so herrlich regiert, sondern der, der "wie eine Mutter ihr Kind trägt" und "wie ein Vater sein Kind in den Armen hält". So trägt Gott in Christus unsere Leiden und unsere Sünden wie nach der griechischen Sage Atlas die Welt auf seinen Schultern trägt, damit sie nicht im Abgrund versinkt und verloren geht. Der Gott, der diese Welt trägt und erträgt, ist der "Gott der Hoffnung" (Römerbrief 15,13).

 

Jürgen Moltmann, aus: zeitzeichen, Evangelische Kommentare zu Religion und Gesellschaft, Nr. 1/06

Moltmann ist emeritierter Professor für systematische evangelische Theologie an der Universität Tübingen