Dietrich Bonhoeffer – ein seltsamer Heiliger der Postmoderne

Kritischer Wegbegleiter oder Säulenheiliger? Das Bonhoeffer-Jahr weckte auch nachdenkliche Anfragen. Letztlich geht es dabei um ein Verständnis von evangelischer Heiligkeit. Von Hans Jürgen Luibl

Dietrich Bonhoeffer – wohl keine andere Person der Kirchengeschichte der letzten 100 Jahre ist so bekannt, so präsent wie er. Die Erinnerungskultur blüht und lässt Bonhoeffer medial auferstehen: als Heiligen. «Der evangelische Heilige» titelte die «Süddeutsche Zeitung» im Geburtstagsartikel. Selbst der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirchen in Deutschland, Bischof Wolfgang Huber, spricht davon, dass Bonhoeffers Lebenslauf ihn zu einem evangelischen Heiligen gemacht habe. Und wenn der Ratsvorsitzende dann auch noch einen Kranz vor dem neuen Bonhoeffer-Denkmal in Breslau niederlegt und betet, so wird die Grenze zwischen evangelischem Gedenken und zivilreligiöser Heiligenverehrung dünn.

Fähigkeit zum Kult wieder entwickeln?

Vielleicht sollte sie es endlich auch, hört man immer wieder. Vielleicht ist es höchste Zeit, dass der europäische Protestantismus die Fähigkeit zu Symbol, Ritual und Kult wieder entwickelt. Dass er hinter leer gewordenen Lehrsätzen die Lehrer aus Fleisch und Blut, am besten den sogenannten Blutzeugen erkennt. Dass er, der so chronisch bildlos ist, wenigstens die Vorbilder fürs Glaubensleben entdeckt. Bonhoeffer wäre dafür, ob er wollte oder nicht, ein Glücksfall des Protestantismus.

So falsch wäre das auch im Blick auf die Geschichte des Bonhoeffer-Gedenkens nicht. Denn dass Bonhoeffer für die Kirche in Zeiten des Widerstands in Deutschlands Drittem Reich und für europäische Kirche in schwierigen Zeiten eine Identitätsfigur war, ist unbestritten. Schon 1945 gab es einen Gedenkgottesdienst – und dies in England. Die Erinnerung an ihn wurde von der Bekennenden Kirche in Deutschland weiter getragen. Bonhoeffer wurde zum «Blutzeugen», wenn auch der politische erst nach und nach im kirchlichen Bonhoeffer erkannt wurde. Er blieb lebendig und überlebenswichtig, etwa als Widerstandfigur in der Zeit des stalinistischen Kirchenkampfes in der mittlerweile ehemaligen DDR.

Auch später, in den achtziger Jahren, im Rahmen der Menschenrechtsbewegung in der DDR, hatte er mit seiner theologisch-politischen Einstellung eine inspirierende Funktion. Bonhoeffer-Texte in Gefängniswände geritzt – das zeigt seine Wirkkraft bis hinein in die Befreiungsbewegungen und -theologien Südamerikas und Südostasiens. Und wo die einen an Bonhoeffer theologisch-politisch anknüpften, nahmen die anderen ihn liturgisch-kirchlich in Anspruch: als spirituellen Rektor eines Predigerseminars oder gar einer Kommunität, die so gefestigt und verbunden in den Stürmen der Zeit den Glauben bewahrt. Aus der Idee der «Sanctorum Communio», der Gemeinschaft der Heiligen, wie eines der Bücher Bonhoeffers heisst, scheint so nach und nach ein Heiliger hervorgegangen zu sein.

Vergessen im Erinnern

In jedem Erinnern aber schlummert ein Vergessen. Dieser Satz ist auch auf das Bonhoeffer-Gedenken zu übertragen. Wo die Erinnerung sich auf Bonhoeffer konzentriert, steht sie in Gefahr, die anderen, die für Bonhoeffer theologisch-grundsätzlich und persönlich so wichtig waren, auszublenden. Der Star stellt sie in den Schatten. Wer etwa kennt Friedrich Justus Perels? Er war juristischer Berater des Bruderrates der Altpreussischen Union, setzte sich für gefährdete Pfarrer ein, versteckte Verfolgte, half ihnen zur Flucht, verfasste mit Bonhoeffer zusammen Berichte über Judendeportationen, prangerte die Euthanasiemorde an – und wurde in der Nacht vom 22. auf den 23. April 1945 in der Nähe des Potsdamer Bahnhofs von einem SS-Kommando erschossen und verscharrt. Er ist nur einer von ungezählten anderen, die mit und neben Bonhoeffer ihr Leben einsetzten im Widerstand. In der kollektiven Erinnerung ist für sie kaum Platz – zumal diese Erinnerung eine gewisse Prägung zu haben scheint.

In erster Linie und am leichtesten scheint der Kirche die Erinnerung an Theologen und die Pfarrerschaft zu gelingen – wie auch in der katholischen Kirche eine gemessen am ganzen Volk Gottes überraschend hohe Zahl der Heiligen aus dem kirchlichen Management rekrutiert wird. Nach dieser Gruppe kommen die kirchlich-akademischen Personen und dann Leute aus dem Kirchenvolk.

Heiligsprechungen sind damit auch immer eine Frage der kirchlichen Macht, letztlich auch der Macht über das Heilige. Besonders schwer tut Kirche sich mit Menschen, die zwar im Widerstand waren, aber nicht der Bekennenden Kirche angehört haben. Oder mit solchen, die anfänglich dem Nationalsozialismus durchaus positiv gegenüberstanden und erst in einem zweiten Schritt in den Widerstand gingen.

Hier wäre etwa der Lübecker Pfarrer Karl Friedrich Stellbrink zu nennen. Anfänglich NSDAP-Mitglied, wurde er zum Kritiker und schliesslich 1943 wegen «landesverräterischer Feindbe­günstigung», «Wehrkraftzersetzung» und anderen «Delikten» hingerichtet. Lange Zeit distanzierte sich die evangelische Kirche von ihrem Pfarrer, der gerade nicht «politically correct» war. Erst 1993 wurde er voll rehabilitiert.

An dieser Figur ist noch ein anderes Problem des Erinnerns zu erkennen: Erinnert wird vermutlich am liebsten die «gerade Linie», Menschen, die von Anfang an wussten, dass sie auf dem richtigen Weg waren oder durch Bekehrung auf diesen gebracht wurden und auch auf diesem geblieben sind. Weil die Welt komplex und schwierig genug ist, braucht es eben Heilige, an denen Lebenslinien klar werden. Was diesen an Heiligkeit fehlt, das schafft die vergessliche Erinnerung. Und wenn es dann noch die Kirche ist, die sich erinnert, die in der komplexen, wenig durchschaubaren und noch weniger beherrschbaren Gegenwart nach ihrer Linie sucht, werden im Rückblick dank den Lebenslinien der Heiligen die eigenen Wege des wandernden Gottesvolkes klarer, als sie es waren, sind oder je sein werden.

Theologische Wegweiser

Bonhoeffer – der evangelische Heilige ein Glücksfall des Protestantismus? Oder eher eine Versuchung? Für eine Kirche im Wandel, die nicht genau weiss, wohin der Weg in Europa am Beginn des 21. Jahrhunderts führt, sind die Herausforderungen gross. Dafür braucht es Orientierungspunkte, theologische Wegweiser für die Gemeinschaft. Es braucht, so scheint es, neue Vorbilder für das individuelle Glaubensleben.

Augenscheinlich muss die verlorene Präsenz in der Öffentlichkeit zurückgewonnen werden und im neuen ökumenischen Wettkampf um ein Mehr an Heiligkeit (Santo subito!) die spirituelle Dimension zum Leuchten gebracht werden. In allen diesen Perspektiven findet sich Dietrich Bonhoeffer wieder. An ihn anzuknüpfen ist so falsch nicht. Dass dies ohne Widerstand, ohne Bruch geschieht, darin liegt aber die eigentliche Versuchung. Um ihr zu widerstehen, braucht es ein Verständnis einer «evangelischen Heiligkeit». Hier ist es nicht damit getan, am Denkmal Bonhoeffers oder Luthers oder Zwinglis öffentlich ein Gebetskränzlein zu flechten und ihr Erbe liturgisch zu reinszenieren.

Es ist auch nicht damit getan, das Leben Verstorbener zu frommen Heiligenlegenden umzubauen oder daraus neokonservative Vorbildchen zu gestalten. Man käme dabei, wie Luther in seiner Vorrede zu den Psalmen sagt, auf nichts anderes denn auf «eitel, stumme Heilige», auf einen nichtssagenden Heiligenkult, auf einen frommen Starkult, auf Gurus, die selber an die Stelle der Botschaft treten. Solche Bilder haben nur Erinnerungs-, keinen Gebrauchswert mehr, das Gedenken schrumpft dabei sehr schnell zur grossen Erinnerungsrede ohne Gegenwartsbezug, zum Totenkult, und sei er rhetorisch und liturgisch noch so schön inszeniert und damit für den Zeitgeist verträglich.

Evangelische Heilige dagegen haben Gebrauchswert – Menschen wie alle anderen auch, deren Heiligenschein weder sie selbst noch die sie verehrenden Kirchen ins rechte Licht setzt, sondern in deren Licht etwas aufleuchtet, was den anderen, auch uns heute, einleuchtet. Wenn es gut geht, eröffnen sie Lernprozesse im Unübersichtlichen, werden aus Säulenheiligen kritische Wegbegleiter.

Ob es evangelische Heilige geben kann, die nicht immer auch für ihre Kirche Ketzer sein müssen? Im besten Fall ist ihre Heiligkeit aber eine Heiligkeit auf Bewährung für alle. Reformatorisch-reformiert muss und kann man die Heiligen wieder hinbringen, woher sie kommen: aus dem gemeinschaftlichen Prozess der Heiligung.

Praktische Verehrung ohne Heiligenschein

Auf den Spuren evangelischer Heiligenverehrung könnte man auch andere Wege gehen: praktische Verehrung ohne Heiligenschein. Man könnte sie beginnen lassen in der Gegenwart, etwa am Stadtrand von Stettin. Dort findet sich in Zdroje, dem ehemaligen Finkenwalde, nichts Grossartiges, was an Bonhoeffers Predigerseminar erinnert, nur ein Gedenkstein ohne Inschrift und ein Kreuz. Ein eher trostloser Platz. An einem anderen Ort in Stettin sind dagegen wenn auch kein Denkmal, so doch ein Bonhoeffer-Gemeindehaus und ein gleichnamiges Studien- und Begegnungszentrum entstanden. Ein Kreis engagierter Christen aus Hamburg, Stralsund und Stettin arbeitet hier an der deutsch-polnischen Verständigung. Für Pfarrer Gas wird Bonhoeffer zum Brückenbauer zwischen Völkern, deren Verhältnis durch die Geschichte schmerzlich belastet ist. Orthodox und dem Mainstream angepasst mag dieses Bonhoeffer-Verständnis nicht unbedingt sein – aber lebendig ist es allemal.

 

Hans Jürgen Luib, Original aus: "reformierte presse", Nr. 16/06; 21. April 2006

Er war Theologe und Europabeauftragter der Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa und ist nun Leiter der Evang. Stadtakademie Erlangen.