Der eigenen Feigheit widerstehen

Glauben und Lebenswirklichkeit gehörten für Bon­hoeffer zusammen. So entwickelte er die «Ethik des Widerstandes». Die ist bis heute aktuell. Von Friedrich Schorlemmer.

«Erst in der vollen Diesseitigkeit des Lebens lernt man glauben», schreibt Bonhoeffer einen Tag nach dem ge­scheiterten Attentat auf Hitler am 21. Juli 1944.

Er wolle kein Heiliger werden, son­dern diesseitig «in der Fülle der Aufga­ben, Fragen, Erfolge und Misserfolge, Erfahrungen und Ratlosigkeiten leben» – und sich darin Gott ganz in die Arme werfen. Welch ein Wagnis war er einge­gangen, als er sich als Mitarbeiter der deutschen Abwehr unter Canaris ver­dingte, aber gerade darin den deut­schen Widerstand ins Ausland vermit­teln wollte. So etwas gilt überall als «Vaterlandsverrat.»

Bonhoeffer, der als Person so sehr für Klarheit, Gradlinigkeit, Offenheit stand, begab sich nicht nur in die Kon­spiration, sondern der Verfasser der «Nachfolge» rechtfertigte den Tyran­nenmord. Nicht nur theoretisch, son­dern aktiv beteiligte er sich an seiner Vorbereitung. Er war die treibende Kraft gegen die aufkommende Juden­verfolgung (seit 1933!) geworden und hielt das Schweigen der Kirche nach der so genannten Kristallnacht für einen Sündenfall. 1939 dann war er – gegen den Rat guter Freunde – aus den USA nach Deutschland zurückgekehrt, weil er dieses Regime von innen be­kämpfen wollte. Nach dem für die meis­ten Deutschen begeisternden Sieg über Frankreich im Juni 1940 irritierte er Freunde in einem Lokal in Memel, als er mit den anderen Gästen aufstand, die Hand in den Himmel reckte und auch die anderen Freunde dazu er­munterte. Hinterher sagte er: «Wir werden uns jetzt für ganz andere Dinge  gefährden müssen, aber nicht für die­sen Salut.»

Wo der Widerstand beginnt

Es war der sehr fromme Bonhoeffer, der sehr politisch wurde und dabei sehr fromm blieb. Seine zentrale Er­kenntnis: Das prinzipiell Gültige muss sich bewähren am konkret Notwendi­gen. Und das heisst immer, im An-Ruf des bedrängten Menschen den Ruf Got­tes an mich im Stimmengewirr der Zeit-Anforderungen zu hören. Und so selbstbestimmt wie zuversichtlich das Fällige zu tun – als ein unvertretbarer Einzelner und als Kirche, die nur Kir­che ist, wenn sie für andere da ist. Bon­hoeffer nennt das «das Teilnehmen am Leiden Gottes im weltlichen Leben». Seine aus dem Gefängnis herausgeschmuggelten Briefe lassen sich als Bausteine für eine aus der Lebenswirk­lichkeit heraus entwickelte Ethik des Widerstandes – aus Glauben! – verste­hen. Er macht sich intensiv Gedanken darüber, «wo die Grenzen zwischen dem notwendigen Widerstand gegen das ›Schicksal‹ und der ebenso not­wendigen Ergebung liegen» (21.2.44).

Es gibt einen sinnlosen Widerstand – bis zum Widersinn und Wahnsinn – wie bei Don Quijote oder Michael Kohlhas. Zugleich aber müsse man «das Grosse und Eigene wirklich unternehmen» und dem, was wir «Schicksal», also das Unabwendbare, nennen, ebenso ent­schlossen entgegentreten, wie man sich zu anderer Zeit unterwerfen muss, also Sich-Ergeben – in jenem Doppelsinn von Sich-drein-Fügen und Aufgeben. Theoretisch lässt sich das leicht unter­scheiden, aber im praktischen Verhal­ten sind «die Grenzen zwischen Wider­stand und Ergebung» prinzipiell nicht zu bestimmen. Beides müsse mit Ent­schlossenheit ergriffen werden. Für Bonhoeffer ist es der Glaube, der «die­ses bewegliche, lebendige Handeln» fordert. Das Prinzipielle bewährt sich im Konkreten.

Gefragt: Gerade Menschen

Weder darf man nur aus Prinzip noch nur aus Kalkül handeln. Handeln bleibt für ihn immer ein Wagnis, das man eben nicht in allem vorbedenken kann, sondern das man zuversichtlich und mutig eingehen muss. Was ihn um­treibt, ist ein Versagen der Christenheit vor dem Ungeheuerlichen der Nazizeit: «Wir sind stumme Zeugen böser Taten gewesen, wir sind mit vielen Wassern gewaschen, wir haben die Künste der Verstellung und der mehrdeutigen Rede gelernt.»

Was gebraucht wird, sind «nicht Ge­nies, Zyniker, nicht Menschenveräch­ter, nicht Taktiker, sondern schlichte, einfache, gerade Menschen». Er lässt offen, ob die innere Widerstandskraft gegen das Aufgezwungene stark genug, die Aufrichtigkeit gegen sich selbst schonungslos gewesen ist. Schonungs­losigkeit ist nicht etwas Masochisti­sches, sondern ist nur möglich, wenn ein Mensch sich in seinem Handeln ge­tragen weiss und weder in einem resig­nativen Vorauspessimismus (Es ist doch alles so sinnlos) versinkt noch einem tatenlosen Optimismus (Gott wird schon alles gut richten).

Man dürfe sich als Christ nicht in frommer Weltflucht der Verantwortung für das Weiterleben entziehen. Ein ge­radezu lutherisches Pathos ergriff ihn: «Mag sein, dass der Jüngste Tag mor­gen anbricht, dann wollen wir gern die Arbeit für eine bessere Zukunft aus der Hand legen, vorher aber nicht.» Zu widerstehen heisst zuallererst seiner eigenen Feigheit, Trägheit, Achtlosig­keit und Resignation vor jedem Han­deln zu widerstehen, sich weder in der Niederlage niederwerfen noch im Er­folg sich betören zu lassen. Die Frage ist nicht, wie ich mich «heroisch aus der Affäre ziehe, sondern wie eine kommende Generation weiterleben soll».

Wahre Tapferkeit

Es gilt, Zivilcourage zu entwickeln, eine Haltung und Handlung, die «aus der freien Verantwortlichkeit» des freien Menschen erwächst – notfalls auch gegen Beruf und Auftrag. Allein in der Tat ist Freiheit! Wer handelt, geht ein Wagnis ein. Es ist ein «freies Glaubens­wagnis», das auf dem Vertrauen be­ruht, dass Gott demjenigen, der durch seine verantwortliche Tat zum Sünder wird, auch Vergebung und Trost zu­spricht. «Nicht im Möglichen schwe­ben, sondern das Wirkliche tapfer er­greifen.» – Das bleibt sein Vermächtnis der Freiheit für uns – mit den von ihm festgehaltenen Stationen «Zucht», «Tat», «Leiden», «Tod».

Bonhoeffer ist durch Einsamkeit hin­durchgegangen und hat die Selbstbe­fragung nie unterlassen. «Wer bin ich?», fragt sich der Gefangene – gleichmütig, mutig, freundlich oder un­ruhig, ringend nach Lebensatem, hun­gernd nach Farben, müde und leer. «Einsames Fragen treibt mit mir Spott. / Wer ich auch bin, Du kennst mich, Dein bin ich, o Gott.» (vgl. S. 17, Red.) Aus dieser Gewissheit kommt sein Mut – und macht uns Mut, mündige Men­schen in einer mündig gewordenen Welt zu sein, unser Christsein als «Beten und Tun des Gerechten unter den Menschen» begreifend, der Gleich­förmigkeit widerstehend, ein Gefühl für Qualität sich bewahrend, der gefähr­lichen Selbstzufriedenheit der Dumm­heit entrinnend – erkennend, wie heute wieder «die Macht der einen die Dummheit der anderen braucht», stets selber der Gnade bedürftig, die aller­dings nicht verbilligt zu haben ist.

 Mit Gott Schritt halten

Ein erschlafftes Christsein und eine schlaffe Kirche machen sich selbst überflüssig. Wir haben das Wort zu sagen, das in der Wärme persönlicher Beziehungen geboren ist und in der kalten Luft der Öffentlichkeit erfriert. Unsere Worte dürfen nicht wurzellos und heimatlos werden – und wir dür­fen unserer Welt das offene, das präzi­se, das wahrhaftige Wort nicht schuldig bleiben, unter dem Kreuz stehend als «Feinde und Gläubige, Zweifelnde und Furchtsame, Spötter und Überwunde-ne». Uns allen gilt das Gebet Jesu um Vergebung. Dann ist es auch nicht ver­messen, «mit Gott Schritt halten» zu wollen. Menschenrechte und Gerech­tigkeit, Frieden und Freiheit, Bebauen und Bewahren der Erde in «Ehrfurcht vor dem Leben», der Horror der Spass­gesellschaft mit politischen Entmündi­gungsstrategien, fundamentalistisch­aggressive Wahrheitsansprüche einer­seits und (zynische) Gleichgültigkeit mit dem Verlust jeglichen Zukunfts­glaubens andererseits stellen uns in Zeiten der globalen Ideologie des Neo­liberalismus samt einem gnadenlosen Kampf um Macht und Ressourcen vor ganz neue ökumenische Herausforde­rungen. Wir erfahren wieder, «dass Mächte die Welt bestimmen, gegen die die Vernunft nichts ausrichtet». Aber vielleicht ein Glaube, der widerstehen lernt, indem er widersteht.

 

Friedrich Schorlemmer (*1944) ist Theologe, Publizist und Träger des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels.

Artikel aus: Publik-Forum, Zeitung kritischer Christen, Oberursel, Dossier «Allein in der Tat ist die Freiheit», 2005. Mit bestem Dank für die Abdruckrechte.