Bonhoeffer - Ein V-Mann Gottes

Aufgrund seines fragmentarischen Denkens und seiner scheinbaren Widersprüche kann Bonhoeffer als Vorfahre der Postmoderne gesehen und gedeutet werden. Von Andreas Fischer

Am 20. Juli 1944 scheitert der Anschlag auf Adolf Hitler. Bis zu diesem Zeitpunkt gilt der im Untersuchungsgefängnis Berlin-Tegel inhaftierte Dietrich Bonhoeffer als kleiner Fisch. Auf die ihm zur Last gelegte «Wehrkraftzersetzung» kann zwar die Todesstrafe stehen, doch hat Bonhoeffer gute Chancen, dass der Prozess versandet. Nach dem Attentat ist alles anders. Eine Maschinerie mit 400 Beamten wird zur Aufklärung des Komplotts in Gang gesetzt, es kommt zu einer Welle von Verhaftungen und 190 Hinrichtungen in kurzer Zeit. Bonhoeffer muss damit rechnen, dass nun auch seine eigene konspirative Tätigkeit ans Licht kommt.

In dieser Situation schreibt er einen Brief an seinen Freund Eberhard Bethge. Darin schildert er, wie er in den vergangenen Jahren «mehr und mehr die tiefe Diesseitigkeit des Christentums kennen und verstehen gelernt» habe. Bonhoeffer erinnert sich an das Gespräch mit einem französischen Pfarrer, das sich um die Frage drehte, was sie mit ihrem Leben eigentlich anfangen wollten. Die Antwort des Kollegen: Er wolle ein Heiliger werden. Obwohl Bonhoeffer davon beeindruckt war, ging seine Antwort in eine andere Richtung: Er wolle glauben lernen. Was das bedeutet, konnte er damals noch nicht wissen. Nun, den Tod vor Augen, schreibt er: «Wenn man völlig darauf verzichtet hat, aus sich selbst etwas zu machen – sei es einen Heiligen oder einen bekehrten Sünder oder einen Kirchenmann . . ., dann wirft man sich Gott ganz in die Arme.»

Diese Sätze sind einerseits Zusammenfassung der theologischen Einsichten, die Bonhoeffer im Gefängnis gewonnen hat. Andererseits machen sie deutlich, aus welchem Geist heraus er das Handwerk der Verschwörung gelernt hatte.

Der schwache Gott

Die theologischen Gedanken, die Bonhoeffer in seiner 2x3 Meter grossen Zelle unter quasi mönchischen Bedingungen entfaltet, sind voller Leben. Gott, schreibt er, sei kein «Lückenbüsser»: Nicht erst an den Rändern, sondern mitten im Leben, in Gesundheit, Kraft und Tat, müsse Gott entdeckt werden. Mit beissendem Spott zieht Bonhoeffer über die «modernen Seelsorger» her, deren «Jagdgebiet» die «Kammerdienergeheimnisse» sind, «d. h. also der Bereich des Intimen (vom Gebet bis zur Sexualität)». Man suche im Blumengarten den Dung und meine, ein schönes Haus erst dann zu kennen, wenn «die Spinnweben im letzten Keller» aufgespürt worden sind.

In klarsichtiger Auseinandersetzung mit den grossen Theologen seiner Zeit (Barth, Bultmann, Tillich) entfaltet Bonhoeffer das Programm einer «nichtreligiösen Interpretation der theologischen Begriffe», das an Aktualität nichts eingebüsst hat. Dass die Welt mündig geworden ist, darf die Theologen nicht dazu verleiten, sie als verlorenes Terrain zu beklagen. Vielmehr ist Bonhoeffer zufolge gerade der aus der Welt hinausgedrängte Gott der eigentlich christliche: «Gott ist ohnmächtig und schwach in der Welt und gerade und nur so ist er bei uns und hilft uns.» Von daher kommt Bonhoeffer zur paradoxen Erkenntnis: «Die mündige Welt ist gottloser und darum vielleicht gerade Gott-näher als die unmündige Welt.»

Zwischen Essensausgabe und Bombenalarm, Hofrundgang und Lektüre, Verhör und Seelsorgegespräch notiert der Gefangene solche dem «schwitzenden Gehirn» abgerungenen Gedanken in den Briefen an Bethge. Dann wieder heisst es: «Es ist zu heiss!», «Gerade jetzt muss ich wieder unterbrochen werden!», «Also, Fortsetzung folgt!»

Fragmente und Facetten

Bonhoeffer leidet darunter, dass sein Leben und Werk Torso bleiben würden. An seine Eltern schreibt er aus dem Gefängnis: «Ein Leben, das sich im Beruflichen und Persönlichen voll entfalten kann und so zu einem ausgeglichenen und erfüllten Ganzen wird, wie es in Eurer Generation noch möglich war, gehört wohl nicht mehr zu den Ansprüchen, die unsere Generation stellen darf.» Aus heutiger Sicht ist es freilich genau dieses Fragmentarische, das Bonhoeffer aktuell und attraktiv macht. Dem Fragmentarischen entspricht der Facettenreichtum seiner Persönlichkeit. Ausgespannt zwischen Gegensätzen mutet seine Existenz fast schon postmodern an:

  • Das Kind aus grossbürgerlicher Professorenfamilie zieht es zu den Schwarzen in Harlem und den Proletariern in Berlin.
  • Dem nüchternen Protestanten ist Frömmelei fremd. Doch als Leiter des Predigerseminars in Finkenwalde initiiert er ein «gemeinsames Leben» mit Beichte, Bibellesung, Tagzeitengebeten, das bis heute in Kommunitäten und Hauskreisen vorbildhaft wirkt.
  • Der Pastor erwartet alles von Christus. Doch möchte er die Religiosität Asiens kennen lernen, weil ihm scheint, «als ob in dem dortigen <Heidentum> vielleicht mehr Christliches steckt als in unserer ganzen Reichskirche».
  • Der an der Bergpredigt orientierte Pazifist beteiligt sich am gewaltsamen Widerstand gegen Hitler.
  • Der Asket fordert «Zucht der Sinne und deiner Seele». Doch in Bonhoeffers Bibliothek in Finkenwalde stehen auch ein paar bequeme Sessel und eine Schallplattensammlung mit den damals in Deutschland noch ganz unbekannten Spirituals.
  • Der brillante theologische Kopf habilitiert sich mit gerade mal 24 Jahren. Doch sein Glaube erscheint mancherorts kindlich. In einem der letzten Lebenszeichen, dem Brief vom 19.12.1944 an die Verlobte Maria von Wedemeyer, dem das berühmte Gedicht "Von guten Mächten" beigelegt ist, schreibt er: "Wenn es im alten Kinderlied von den Engeln heisst: <zweie die mich decken, zweie die mich wecken>, so ist diese Bewahrung am Abend und am Morgen durch gute unsichtbare Mächte etwas, was wir Erwachsenen heute nicht weniger brauchen als die Kinder."
  • Von dem selbstbewussten Mann sagen Mitgefangene und Wärter, er trete aus der Zelle "gelassen und heiter und fest wie ein Gutsherr aus seinem Schloss". Bonhoeffer selber bekennt, er fühle sich "unruhig, sehnsüchtig, krank, wie ein Vogel im Käfig".

«Die Notwendigkeit zu handeln»

Glaube, wie Bonhoeffer ihn versteht, weilt nicht im geistlichen Ghetto, sondern ruft zu Verantwortung und Tat. Die radikale «Diesseitigkeit» führt ihn in den Widerstand. Sein Schwager Hans von Dohnanyi arbeitet unter Admiral Canaris im Amt für Spionageabwehr. Dort gilt strikte Geheimhaltung, weshalb die Zentrale ein geeigneter Ort für konspirative Tätigkeit ist. Rettung von Juden, Dokumentation der Verbrechen des Nationalsozialismus, Planung des Umsturzes werden von hier aus betrieben. Eine Organisation, die zwecks Informationsbeschaffung sogar mit Juden und Kommunisten zusammenarbeitet, bietet auch Platz für einen Pastoren auf der schwarzen Liste der Gestapo.

Bonhoeffer wird als V-Mann engagiert. Offiziell soll er seine internationalen ökumenischen Kontakte nutzen, um Informationen für den deutschen Geheimdienst zu sammeln. In Wirklichkeit nutzt er sie für den Widerstand. Er reist in die Schweiz sowie nach Norwegen, Schweden und Italien, um in Erfahrung zu bringen, wie die Alliierten im Fall eines Putsches reagieren und ob sie den Krieg beenden würden. Im Rahmen der Untersuchungen nach dem 20. Juli werden in der Lüneburger Heide die Zossener Akten entdeckt. «Jeder Zettel» dieser Dokumente, sagte Hans von Dohnanyi einst, «bedeutet ein Todesurteil.» Und so ist es. Am 8. Oktober 1944 wird Bonhoeffer in den berüchtigten Gestapo-Keller an der Prinz-Albrecht-Strasse überführt, am 9. April des folgenden Jahres, einen Monat vor Kriegsende, im KZ Flossenbürg ermordet.

Der Bericht des SS-Lagerarztes über das Sterben von Dietrich Bonhoeffer trägt zur Legendenbildung bei: «Er verrichtete ein kurzes Gebet und bestieg dann mutig und gefasst die Treppe zum Galgen. Der Tod erfolgte nach wenigen Sekunden.» Er habe, kommentiert der Scherge, in seiner «fast 50-jährigen ärztlichen Tätigkeit kaum je einen Mann so gottergeben sterben sehen.» Der Bericht ist leider erlogen. Ein überlebender KZ-Häftling berichtet u. a., dass es gar keine Treppe gab. Die Strangulation an einem Haken dauert wohl von morgens um sechs Uhr bis gegen Mittag. Zusammen mit Bonhoeffer sterben Admiral Canaris und andere denselben qualvollen Tod.

Gleichentags wird von Dohnanyi in Sachsenhausen ermordet, am 23. April Bonhoeffers Bruder Klaus und der Schwager Rüdiger Schleicher. Nach Kriegsende schreibt der Vater, der Psychiatrieprofessor Karl Bonhoeffer, an einen emigrierten Kollegen: «Dass wir viel Schlimmes erlebt und zwei Söhne und zwei Schwiegersöhne durch die Gestapo verloren haben, haben Sie, wie ich höre, erfahren. Sie können sich denken, dass das an uns alten Leuten nicht ohne Spuren vorübergegangen ist (...) Da wir aber alle über die Notwendigkeit zu handeln einig waren und meine Söhne auch sich im Klaren waren, was ihnen bevorstand im Falle des Misslingens des Komplotts und mit dem Leben abgeschlossen hatten, sind wir wohl traurig, aber auch stolz auf ihre gradlinige Haltung.»

 

Andreas Fischer, aus: St.Galler Tagblatt, 3. Februar 2006

Fischer ist reformierter Theologe und arbeitet als Studienleiter und Koordinator des 'Forums Spiritualität und Solidarität Ostschweiz' in St. Gallen