Die vier biblischen Mandate
Gestern vor 100 Jahren wurde der Theologe Dietrich Bonhoeffer geboren. Er hat in der Kirche und überhaupt in der Geschichte des 20. Jahrhunderts eine wichtige Spur gelegt, und zwar sowohl was sein Werk als auch was sein Leben betrifft. Nur am Rande sei erwähnt, dass er sehr begabt war und bereits mit 22 Jahren seinen Doktortitel erwarb. Sein christlicher Glaube, seine Begabung und seine Erkenntnis mussten ihn zwangsläufig in eine Frontstellung zur Dummheit und zur Brutalität führen, welche in Deutschland, die Macht ergriff. Bonhoeffer bezahlte seine Haltung mit dem Leben. Er wurde am 9. April 1945, also kurz bevor die Nazi-Barbarei zusammenbrach, durch diese hingerichtet, oder wie man präziser sagen muss: ermordet.
Gedenktage sind sinnvoll, wenn es gelingt, die Sache, oder den Menschen, an den man sich erinnert, irgendwie zur Sprache zu bringen und aktuell zu machen. Das möchte ich in der heutigen Predigt versuchen. Unter den erstaunlich zahlreichen Büchern, die Bonhoeffer in seinem kurzen Leben geschrieben hat, trägt eines den Titel „Ethik“. Es befasst sich mit dem menschlichen Tun, und mit den Kriterien, die es braucht, um richtiges von falschem Tun zu unterscheiden. Schon im Inhaltsverzeichnis fällt auf, dass in der christlichen Ethik Christus eine zentrale Stellung hat. Ethik ist ja ein Allerweltsthema, und das darf es auch sein. Aber wenn wir aus christlicher Sicht über Ethik nachdenken und reden, dann kommen wir um die biblischen Aussagen nicht herum.
Bonhoeffer war ein Mann der Kirche, aber sehr weltzugewandt. Das Klima seines Elternhauses war weder fromm noch kirchlich. Der Vater war Psychiater. Zwar gehörten kirchliche Traditionen wie Taufe und Konfirmation dazu und wurden ernst genommen. Aber ansonsten lebte Familie Bonhoeffer von der Kirche etwas entfernt. Der Kirchgang zählte nicht zu ihren Gewohnheiten. Dietrich musste dies alles sozusagen aus eigenem Antrieb entdecken. Er wurde nur 39 Jahre alt, sämtliche seiner Bücher schrieb er also in jungen Jahren. Das merkt man diesen Büchern an, denn sie haben eine gewisse Frische und sind keineswegs darauf bedacht, sich nach allen Seiten abzusichern.
In der Ethik Bonhoeffer gibt’s ein Unterkapitel, mit dem Titel: Die vier Mandate. Wir erfahren hier, wie die Beziehung zu Christus konkret wird. Die Heilige Schrift, so Bonhoeffer, nenne vier Mandate, nämlich: Die Arbeit, Die Ehe, die Obrigkeit (also den Staat), und die Kirche. Das tönt heute, etwa 70 Jahre später, etwas fremd. Bonhoeffer spitzt seine Aussage zu mit der Behauptung, Gott habe jeden Menschen unter alle vier Mandate gestellt. Das mag für Leute, die unverheiratet sind, fast wie eine Beleidigung klingen. Aber Bonhoeffer selber war ja auch nicht verheiratet. Wir kommen noch darauf, wie er das Mandat der Ehe auffasst.
Besonderen Wert legt er darauf, dass nicht etwa die ersten drei – Arbeit, Ehe und Obrigkeit – weltlich wären, und das vierte – die Kirche – göttlich. Vielmehr soll das christliche Leben in allen Bereichen eingeübt werden. Alle Bereiche sind geistlich, weil sie auf Christus bezogen sind.
Erstes Mandat
Das Mandat der Arbeit begegnet uns nach der Schrift schon beim ersten Menschen. Adam soll ja den Garten Eden bebauen und bewahren (Gen.2,15). Auch nach dem Sündenfall von Adam und Eva bleibt die Arbeit des Menschen treue Begleiterin. Er soll im Schweisse seines Angesichts seine Nahrung gewinnen. Aber auch alle anderen Tätigkeiten, die nicht direkt mit dem Nahrungsgewinn zu tun haben, gehören der Arbeit zu: Im 4. Kapitel des ersten Buches Mose werden auch die Städtebauer erwähnt, auch die Musiker, auch die Schmiede. Also die Wirtschaft, die Kultur und die Wissenschaft, überhaupt alles, was der Mensch verrichtet, ist Ausdruck seines mitschöpferischen Tuns. Was wir Menschen tun, ist keine Schöpfung aus dem Nichts wie die Schöpfung Gottes; aber es ist stets ein Schaffen von etwas Neuem auf Grund der Schöpfung Gottes. Kein Mensch kann sich diesem Mandat entziehen. Durch das Mandat der Arbeit soll eine Welt entstehen, die – ob sie es weiss oder nicht – auf Christus ausgerichtet ist. Dass es ausgerechnet die Nachkommen Kains sind, die dieses Mandat erfüllen sollen, wirft allerdings einen Schatten auf alle Arbeit, denn Kain hatte seinen Bruder Abel getötet.
Als Schatten der Arbeit erfuhren die Menschen über Jahrtausende die körperlichen Strapazen. Wir sind das Zeitalter, das zu grossen Teilen nicht mehr körperlich, sondern mit den Leistungen des Kopfes und der Kommunikation den Lebensunterhalt verdient. Ein paar tausend Bauern mit grossen Maschinen genügen, um Millionen von Menschen zu ernähren. Trotzdem spüren wir den Schatten der Arbeit unvermindert: als Leistungsdruck, als Hektik, und im schlimmsten Fall als Arbeitslosigkeit. Alle Arbeit, auch diejenige, wo man nicht schmutzig wird, auch Kultur und Akademie, fällt unter das Mandat und unter den Schatten. Die Wirtschaft, die Arbeit und die Zusammenarbeit laufen nie reibungslos ab. So wie das Wetter für die Landwirtschaft unberechenbar ist, so ist das menschliche, wirtschaftliche und das politische Klima für alle Arbeit unberechenbar. Es braucht mehr als blosse Abläufe, damit die Dinge gedeihen.
Zweites Mandat
Das zweite, das Mandat der Ehe begegnet schon beim ersten Menschen. In der Ehe werden die Menschen eins vor Gott, wie Christus mit der Kirche eins wird. Die Gemeinschaft von Mann und Frau ist auch der Ort, wo Kinder gezeugt und erzogen werden. So wie in der Arbeit neue Werte, so werden durch Mann und Frau neue Menschen geschaffen. Allerdings fällt auch auf dieses Mandat ein Schatten. Die Entfremdung zwischen Mensch und Gott in der Geschichte vom Sündenfall hängt zusammen mit der Entfremdung zwischen Mann und Frau. Das entspricht unserer Erfahrung, dass sich Mann und Frau nicht ohne weiteres verstehen. Über dem Verhältnis von Mann und Frau – nicht nur in der Ehe – schwebt eine unausgesprochene Frage, die ungefähr so lautet: Wieso bist du und empfindest du so anders als ich? Du bist mir ein Rätsel. Damit sich Mann und Frau verstehen, braucht es Kompromissbereitschaft, und, nicht zu vergessen: Glück. Der Pfarrer und Schriftsteller Kurt Marti, soeben 85 Jahre alt geworden, hat einmal gesagt, er sei glücklich verheiratet, aber er würde sich nie anmassen, über diejenigen ein Urteil zu fällen, die das nicht sind; oder nicht mehr sind. Die Ehe ist der Prototyp der menschlichen Gemeinschaft. Menschliche Gemeinschaft ist grundsätzlich schwierig, weil jedes von uns ein starkes Ego hat und dazu neigt, sich benachteiligt zu fühlen. Deshalb ist auch die Ehe gefährdet.
Drittes Mandat
Das dritte Mandat ist das der Obrigkeit, also des Staates. Es setzt die beiden anderen voraus. Die Obrigkeit, so schreibt Bonhoeffer, kann nicht selber Leben oder Werte erzeugen. Sie ist nicht schöpferisch. Aber sie schützt alles Geschaffene, und insbesondere schützt sie die Menschenwürde. Sie schützt die Schwachen gegenüber den Starken. Sie tut dies mit dem Gewaltmonopol, und in Einzelfällen auch finanziell. Indem sie das Recht setzt und die Freiheit schützt, hält sie den Weg frei für Jesus Christus. Christus vermittelt den Menschen die Liebe Gottes. Es ist interessant, dass Bonhoeffer sagt, der Staat sei nicht schöpferisch, könne also keine wirtschaftlichen Werte erzeugen. Der Nazi-Staat, damals, wollte genau das sein: schöpferisch. Er versprach den Menschen Einkommen und Wohlstand. Und er löste das Versprechen ein mithilfe von Plünderungen an den Juden und von Kriegsbeute. Wo der Staat für die Menschen sorgt, da werden die Bürger zu Untertanan, und der Staat wird leicht zur Tyrannei.
Deshalb ist auch die Obrigkeit, der Staat, grundsätzlich gefährdet. Das sieht man auch im Neuen Testament. Jesus wurde von den Römern als politischer Aufwiegler, als Zelot, hingerichtet, obwohl er gar keiner war. Die Zeloten wollten einen jüdischen Gottesstaat aufrichten und machten Terror gegen Behörden und Bevölkerung. Die Fronststellung gegenüber der Staatsmacht hat immer auch etwas faszinierendes. Deshalb war die Bewegung auch für Jesus eine Versuchung. Unter seinen Jüngern hatte es zumindest einen Zeloten, nämlich Simon den Eiferer. Zelot heisst Eiferer. Wahrscheinlich hatte auch Petrus Sympathien zu den Zeloten, denn als er sah, dass Jesus sich nicht wehrte, da verliesse er ihn. Jesus war kein Zelot, kein Revolutionär. Er sagte zu seinen Jüngern: Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist.
Es ist naheliegend, dass dieses Thema für Dietrich Bonhoeffer von höchster Brisanz war. Das Buch über die Ethik gehört zu den letzten, die er schrieb. Es war in den Kriegsjahren, und er sass im Gefängnis in Berlin. Er hatte der Verschwörergruppe angehört, die ein Attentat auf Hitler plante. Die Frage, ob man einen Tyrannen wie Hitler umbringen darf, wühlte Bonhoeffer zutiefst auf. In dieser Spannung schrieb er einmal folgendes: Allein der wahre Gott weiss, ob im Augenblick der Tat hier wirklich im Namen des Lebens gehandelt worden ist. Und wenn das Opfer vollbracht und der Erfolg versagt ist (also die Sache missglückt PR), bleibt immer noch Zweideutigkeit.
Bereits im Jahr 1932 hatte Bonhoeffer in einer Predigt gesagt, dass wieder Zeiten kommen werden, wo Märtyrerblut gefordert sein wird, aber dieses Blut wird nicht so unschuldig und leuchtend sein wie das der ersten Zeugen. Auf unserem Blut läge grosse eigene Schuld. (Bethge 893f)
Gebt dem Staat war des Staates ist. Aber wenn der Staat von den Bürgern das verlangt, was Gott gebührt, dann ist Widerstand notwendig. Nicht in überstelliger Rechthaberei, sondern in selbstkritischer Haltung, wie sie Bonhoeffer so eindrücklich vorlebte.
Viertes Mandat
Das vierte Mandat ist das der Kirche. Es dient dazu, die anderen Lebensbereiche auf Christus zu beziehen. Arbeit, Familie und Staat sind ja völlig verschiedene Dinge. Sie haben auf den ersten Blick nichts miteinander zu tun. Sie haben zwar etwas gemeinsam, nämlich dass sie in der Heiligen Schrift angelegt sind, und dass sie durch Konflikte und Spannungen gefährdet sind. Ich würde sogar noch einen Schritt weiter gehen und sagen: Dass eine Ehe hält, dass eine Firma mit ihren verschiedenen Mitarbeitern, und seien es nur wenige, funktioniert, das ist nach menschlichem Ermessen erstaunlich. Noch erstaunlicher ist vielleicht, dass ein Staatswesen einigermassen Recht und Ordnung sichern kann. Urs Schöttli, der China-Korrespondent der NZZ, sagte einmal, als er hier war: Die Chinesen, das ist ein Volk von 1,3 Milliarden Anarchisten. Ich glaube, im Kern hat doch jeder Mensch seine anarchistische Seite. Weltweit. Deshalb sage ich: Wenn ein Staatswesen funktioniert, so ist das erstaunlich.
Es fällt uns auf, dass die Bereiche Arbeit, Ehe und Staat sich seit einigen Jahren stark verändern. Vieles, was selbstverständlich war, ist gefährdet oder beschädigt. Es gibt Manager, die sich nicht genieren, jährlich Dutzende von Millionen zu kassieren. Und es gibt Arbeitnehmer, die mit Zähnen und Klauen am Besitzstand festhalten wollen. Über die Ehe spricht die Scheidungsstatistik eine deutliche und tragische Sprache, und auch im Staat sieht man den Konsens bröckeln. Lösungen sind immer schwieriger zu finden. Dietrich Bonhoeffer schliesst sein Kapitel mit dem Hinweis, dass der Wille Gottes, wie er in Jesus Christus offenbar ist, die ganze Wirklichkeit umfasst. Zugang zum Ganzen schaffe allein der Glaube an Christus, „durch den alles versöhnt ist im Himmel und auf Erden“ (Kol1,20). Der Glaube an diesen Jesus Christus ist die alleinige Quelle des Guten. Nur er kann dafür sorgen, dass die Mandate ein göttliches und damit menschenfreundliches Antlitz haben, oder bekommen.
Predigt von Pfr. Peter Ruch, gehalten in der reformierten Kirche Schwerzenbach, am 5. Februar 2006