Bonhoeffer - Zeuge Jesu Christi in dunkler Zeit

Predigt am Palmsonntag 2006. Von Ruedi Reich

Ihr werdet Kraft empfangen, wenn der Heilige Geist über euch kommt, und werdet meine Zeugen sein in Jerusalem und in ganz Judäa und Samarien und bis ans Ende der Erde.
Apostelgeschichte 1.8

 

Liebe Gemeinde
Christen gedenken dieses Jahr weltweit des hundertsten Geburtstages von Dietrich Bonhoeffer, geboren am 4. Februar 1906 in Breslau. Dietrich Bonhoeffer – ein Zeuge Jesu Christi in dunkler Zeit. Heute ist sein Todestag. Am 9. April 1945 wurde er von Nazischergen im Konzentrationslager Flossenbürg grausam ermordet.

Kirchliche Medien kritisieren in Veröffentlichungen über Bonhoeffer, dieser sei doch kein „Heiliger“ gewesen. Bilderstürmerisch warnen sie davor, man dürfe diesem Mann des deutschen Widerstandes gegen die Hitler-Unmenschlichkeit keinen Heiligenschein verpassen. Auch Bonhoeffer habe doch seine Fehler gehabt. Manche politische und theologische Fehleinschätzung sei ihm als Kind seiner Zeit unterlaufen.

Ja, was soll das? Wer hat denn je gesagt, „Heilige“ seien fehlerlos? Franz von Assisi war kein Musterbeispiel eines gehorsamen Sohnes. Er entsprach gerade darin nicht dem Idealbild seiner Zeit. Für autoritäre kirchliche Behörden war er schlicht ein „schwieriger Mensch“. Niklaus von Flüe dürfte für seine Dorothea nicht der ideale Ehemann gewesen sein, so wie sich ihn die damalige katholische Kirche wünschte. Auch er war in seiner Weise ein „schwieriger Mensch“ in seiner Gottsuche, ja Gottbesessenheit. Dennoch gab er in einer schweren Krise der Eidgenossenschaft den rechten zukunftsweisenden Rat. Ja, und die Reformatoren, Martin Luther, Huldrych Zwingli, Johannes Calvin, Heinrich Bullinger – dass auch sie oft schwierige Menschen waren, den Vorurteilen und Irrtümern ihrer Zeit verhaftet, ist uns vertraut. Dennoch ehren wir sie, denn sie haben neu und konsequent Kirche und Gesellschaft im Sinne des Evangeliums geprägt. Sie waren Zeugen Jesu Christi in ihrer Zeit und Welt und weit darüber hinaus.

„Ihr werdet meine Zeugen sein“, sagt Jesus zu den Jüngern und Aposteln. Und wir wissen es, der auferstandene Christus redet hier durchaus auch zu „schwierigen Menschen“, Menschen, die später als Heilige und Vorbilder verehrt wurden. Petrus war, salopp gesagt, ein Grossmaul, wenn es um Träume vom Reich Gottes ging. Er war ein Versager, als es um die Treue zu Christus ging. Paulus – wenn wir seine Briefe lesen: Er ist erfüllt von Leidenschaft für Christus. Dennoch war er von aufbrausendem Temperament, oft ungerecht und masslos in der Kritik den von ihm gegründeten Gemeinden gegenüber. Auch Paulus – ein Zeuge Jesu Christi und ein schwieriger Mensch. Und Paulus hat alle Mitglieder der von ihm gegründeten Gemeinden als „Heilige“ angesprochen, als die von Gott Berufenen und Geheiligten. Die Heiligen im Fraumünster also heute morgen, Zeuginnen und Zeugen Jesu Christi.

„Heilige“, Zeugen Jesu Christi – da sind wir alle angesprochen. Da können wir nicht scheinheilig-moralistisch ausweichen „Ich bin doch kein Heiliger“. Doch, wir sind Heilige, wir sind Zeugen Jesu Christi. Wir sind als solche in Pflicht genommen als Hörerinnen und Hörer des Wortes Gottes. Als „Heilige“, als von Gott Geheiligte, gilt es, in unserer Zeit und Welt in Wort und Tat für Christus Zeugnis abzulegen.

Wenn wir diesen Zuspruch und Anspruch des Evangeliums für uns alle ernst nehmen, dann können wir auch gelassen feststellen: Es gibt Christinnen und Christen in Vergangenheit und Gegenwart, die etwas „heiliger“ sind als wir. Nicht moralisch besser sind sie, nicht Männer und Frauen mit einem Heiligenschein. Aber Menschen, die in ihrer Zeit und Welt in besonderer Weise Zeuginnen und Zeugen Jesu Christi waren. Die Kirche aller Jahrhunderte hat sie „Heilige“ genannt, ob sie nun offiziell heilig gesprochen waren oder einfach vom Kirchenvolk als Heilige, als Vorbilder verehrt wurden.

Es ist eindrücklich, wie der spätere Nachfolger von Heinrich Bullinger als Antistes der Züricher Kirche, Ludwig Lavater, 1559 mitten in den konfessionellen Auseinandersetzungen um die „Heiligen“ betonte, diese würden zwar in Zürich nicht mehr kultisch verehrt. Dennoch werde in den Predigten immer wieder auf sie hingewiesen. Ludwig Lavater sagt: „Die Feste der Jungfrau Maria indessen, der heiligen Apostel und der heiligen Märtyrer Christi hat unsere Kirche aus vielen gewichtigen Gründen abgeschafft. Trotzdem werden vor allem ihre Glaubenstreue und ihre Tugenden in den Predigten von den Dienern der Kirche angelegentlich dem Volk empfohlen, das auch zu Nachahmung aufgefordert wird.“

In dieser Weise geschieht es, liebe Gemeinde, wenn in Veranstaltungen und Gottesdiensten an Dietrich Bonhoeffer erinnert wird. Und statt beweisen zu wollen, Bonhoeffer sei doch „kein Heiliger“ gewesen, sondern ein Mensch auch mit Fehlern und Mängeln, hin und wieder sogar ein schwieriger Mensch, könnten wir es mit dem evangelischen Bischof von Berlin-Brandenburg, Wolfgang Huber, schlicht festhalten: „Wir haben allen Grund für das Leben und Wirken dieses evangelischen Heiligen zu danken.“

Dietrich Bonhoeffer – ein evangelischer Heiliger. Es waren am 4. Februar 2006 hundert Jahre seit seiner Geburt. Und es sind heute genau einundsechzig Jahre seit seiner Hinrichtung im Konzentrationslager Flossenbürg: 9. April 1945. In Flossenbürg gibt es heute eine Gedenktafel mit der schlichten Inschrift: Dietrich Bonhoeffer – ein Zeuge Jesu Christi unter seinen Brüdern. Einen höheren Titel hat die Christenheit nicht zu vergeben als den: Zeuge Jesu Christi.

Das Geschehen vor einundsechzig Jahren zeigt uns: Es war nie eine einfache Sache, Zeuge Jesu Christi zu sein. Es konnte zu allen Zeiten blutiger Ernst werden, nicht nur damals, aber damals in besonderer Weise. Die Kräfte des Bösen haben sich im 20. Jahrhundert in einer Weise und in einem Unmass ausgetobt, dass es uns immer wieder umtreibt, warum Gott das zulassen konnte. Martin Buber, der jüdische Gelehrte, hat darum von einer „Gottesfinsternis“ gesprochen.

9. April 1945 – im Konzentrationslager Flossenbürg werden in der Frühe des Tages fünf Männer getötet, die aus ethischen und religiösen Gründen gegen die Hitlerbarbarei gekämpft haben. Der evangelische Pfarrer, Dietrich Bonhoeffer, wird zusammen mit hohen Militärs umgebracht. In der Nacht zuvor hatte ihnen ein Standgericht einen Scheinprozess gemacht. Hitler selbst hatte die Ermordung befohlen. Einen Monat vor Kriegsende wurde die Hinrichtung durchgeführt. Deutschland war weitgehend zusammengebrochen. Millionen von Flüchtlingen waren auf den Strassen unterwegs. Kaum etwas funktionierte noch. Kaum etwas, nur die Todesmaschinerie des Unmenschen, der sich „Führer“ nannte, sie funktionierte, mit letzter Präzision, mit tödlicher Perfektion.

Hunderte von Kilometern mussten die Blutrichter überwinden, um nach Flossenbürg zu kommen. Auch die Gefangenen wurden nach Flossenbürg gebracht, obwohl kaum ein Transport noch funktionierte. Bonhoeffer musste erst weit entfernt noch gesucht werden. Er hielt zusammen mit anderen Gefangenen am Sonntag nach Ostern einen Gottesdienst. Ein Suchtrupp fand ihn mitten im Chaos des untergehenden Reiches. Jäh wurde der Gottesdienst unterbrochen durch die schneidenden Worte „Gefangener Bonhoeffer mitkommen“. Bonhoeffer verabschiedete sich wohl wissend, was auf ihn zukommen werde, mit den Worten: „Das ist das Ende – für mich der Beginn des Lebens.“ Es sind Worte, gesprochen am Vorabend des Todes. Ahnen wir, warum Wolfgang Huber Jahrzehnte später von „diesem evangelischen Heiligen“ spricht.

In der Nacht wurden die Männer verurteilt. In der Frühe des 9. April wurden sie erhängt, „in völlig nacktem Zustand“, wie ein Protokoll festhält. Man wollte die Männer erniedrigen bis zum Schluss. Dietrich Bonhoeffer wurde als letzter der fünf ermordet. Er sollte den Tod der andern mitansehen.

Und seine Richter? Hat sie je eine gerechte Strafe getroffen? Der eine seiner Blutrichter, der Kommandant des KZ Flossenbürg, hat sich nach seiner Verhaftung 1946 erhängt. Die übrigen zwei haben überlebt. 1955 wurde der eine zu einer Haftstrafe verurteilt, der andere mangels Beweisen frei gesprochen. Das Todesurteil selbst wurde 1955 – man höre – von deutschen Gerichten für rechtmässig erklärt und erst Ende der Neunziger Jahre aufgehoben.

Ja, wie sollte man da nicht am 9. April 2006 mit tiefem Erschrecken an solche Dinge denken. Die Perfektion der nazistischen Tötungsmaschinerie, die sich auf Hunderttausende von Helfershelfern stützen konnte, sie hat auch anderweitig millionenfach zugeschlagen, Männer, Frauen und Kinder ermordet. An einigen wenigen Schicksalen wird uns deutlich, dass das Zwanzigste Jahrhundert mit unvorstellbarem Grauen erfüllt war. Europa spricht heute oft und gern von seinen abendländischen und christlichen Werten. Im Zwanzigsten Jahrhundert aber war es durch Ideologien zerrissen und darum Ort grauenhaften Mordens. 

Und doch gab es da immer wieder solche, die sich, wie Bonhoeffer, vornahmen, nicht nur „die Verwundeten unter dem Rad zu verbinden“, sondern wie Bonhoeffer sagt, „dem Rad selbst in die Speichen zu fallen“. Aus tiefer Christusverbundenheit heraus, die ihn zur Verantwortung für die Welt rief, ist er diesen Weg gegangen. Als junger Theologe hat er – gefährlich genug – Pfarrer der Bekennenden Kirche ausgebildet. In der gleichen Überzeugung ist er im August 1939 mit einem der letzten Schiffe aus der Sicherheit der USA nach Deutschland zurückgekehrt. Mehr als zwei Jahre Haft mit Einsamkeit und Erniedrigung hat er durchgestanden. Dennoch, er hat sich nicht von der Welt abgewandt. Er war bereit, Verantwortung zu übernehmen. Er hat sich auch dankbar gefreut an der Welt und den Gaben Gottes. Gefreut hat er sich auch als Verliebter an seiner achtzehn Jahre jüngeren Braut, Maria von Wedemeyer. Sie durfte er nur im Beisein von Gefängnispersonal sprechen. Bonhoeffer war dankbar für alle guten Gaben des Lebens. Er war kein finsterer Asket und Märtyrer. Er mahnt gerade als „Zeuge Jesu Christi“ zu Freude und Dankbarkeit für alles, was Gott schenkt: Für jeden Strahl der Sonne, für jeden Gesang eines Vogels, für jedes Wort und Zeichen der Freundschaft und Liebe.

Über die theologischen Gedanken Dietrichs Bonhoeffers wurden halbe Bibliotheken geschrieben. Er war ein glaubwürdiger christlicher Denker, in welchem sich Engagement, Denken, Glauben und Existenz zusammenfinden. Darum geht von ihm eine so grosse Faszination aus.

Im Wort des auferstandenen Christus, das wir zu Beginn der Predigt gehört haben, heisst es: „Ihr werdet Kraft empfangen, wenn der Heilige Geist über euch kommt und werdet meine Zeugen sein“. Ihr werdet meine Zeugen sein. Es heisst nicht, ihr sollt meine Zeugen sein, wie oft übersetzt wird. Christus geht vom Zeugendienst seiner Nachfolger aus. Damals, von denen, die ihm nachgefolgt sind in Palästina bis hin zum letzten Abendmahl. Aber Nachfolge ging weiter, Nachfolge hinter dem Auferstandenen her, nicht in seinem Schatten, sondern in seinem Licht, durch alle Jahrhunderte.

Solche Nachfolgerinnen und Nachfolger, solche Zeuginnen und Zeugen Christi sind nicht allein. Menschen aus Vergangenheit und auch Gegenwart sind mit uns unterwegs. Die Gedenktafel in Flossenbürg sagt es ja: Dietrich Bonhoeffer – ein Zeuge Jesu Christi unter seinen Brüdern. Wir würden heute die Schwestern nicht vergessen. Aber dies ist gewiss: Die Aufgabe von Zeuginnen und Zeugen Jesu Christi ist es, andere zum Zeugesein zu ermutigen.

Man kann Dietrich Bonhoeffer nicht einfach nachahmen wollen. Wir leben, Gott sei Dank, in einer anderen Zeit und Welt. Aber Bonhoeffer steht als glaubwürdiger Zeuge Jesu Christi vor uns und ermutigt uns, in der Nachfolge Jesu Christi, uns unserer Zeit und Welt mit ihren Chancen und Sorgen, Freuden und Nöten mutig und zuversichtlich zu stellen.

Kirche ist „Communio sanctorum“, „Gemeinschaft der Heiligen“, wie es im alten christlichen Glaubensbekenntnis heisst: Gemeinschaft der von Gott Gerufenen und von Christus Geheiligten aller Orte und Zeiten. Heilige, zu denen wir alle gehören dürfen, sind darum Menschen, die von Christus in die Welt gesandt sind, sein Evangelium in Wort und Tat zu bezeugen. Dietrich Bonhoeffer wurde nicht müde, in dunkler Zeit diesen Dienst zu tun: zu Christus zu rufen, von daher zu einem Leben in Hoffnung und Liebe zu ermutigen. Dafür, dass es solche besonderen Zeugen Christi gibt, dürfen wir von Herzen dankbar sein.

Und Christus ruft auch uns zu Zeuginnen und Zeugen. Lassen wir uns zu dem ermutigen, worauf es – wie Bonhoeffer sagt – einzig ankommt: zum Gebet und zum Tun des Gerechten.

 

Predigt von Ruedi Reich, Kirchenratspräsident der evangelisch-reformierten landeskirche des Kantons Zürich, gehalten am Palmsonntag, 9. April 2006, im Fraumünster Kirche