Ängstlich, aber nicht feige: Dietrich Bonhoeffer als Vorbild

Vorbilder dürfen keine unnahbaren Helden, sie müssen Menschen mit Ängsten und Schwächen sein. Vorbilder werden sie, weil sie das leben, was sie sagen. Von Rolf-Joachim Erler

"Denn Gott hat uns nicht gegeben den Geist der Feigheit, sondern der Kraft und der Liebe und der Zucht." (2. Timotheus 1,7)

Liebe Gemeinde

Heute sprechen wir über einen Menschen, liebe Gemeinde, der aus sich selbst nichts machen wollte - jedenfalls keinen Heiligen. Da haben wir uns sofort zu fragen: Dürfen wir hier in der Markuskirche in Zürich-Seebach im Jahre 2006 den Menschen und Christen Dietrich Bonhoeffer wie einen Heiligen verehren? - Die Reformation hat diese Frage mit einem dreifachen, klaren "Ja" beantwortet: Wir dürfen Gott danksagen, dass er uns Lehrer in der Kirche gegeben hat, die soll man auch loben. An ihnen finden wir ein Beispiel, das unseren Glauben stärkt. Und wir ehren sie dadurch, indem wir ihrer Liebe und Geduld - ein jeder in seinem Beruf - nachfolgen.

Gewiss, Bonhoeffer hätte für sich selber diese Verehrung abgelehnt. Wie konnte er auch wissen, dass er einmal ein Märtyrer unserer Weltkirche werden würde. Aber er hat wie wir heute gewusst, dass wir Vorbilder brauchen; Vorbilder, deren Reden mit dem eigenen Leben übereinstimmt, auch eingedenk all der Fehler und Schwächen, die wir haben. Dabei gilt der Satz eines bedeutenden Philosophen, "dass ein feiger Hund ist, dessen Theorie etwas anderes ist als seine Praxis."

So hatten ihn, den bereits von den Nazis Geschmähten, amerikanische Freunde im Jahre 1939 beschworen, in dem sicheren New York zu bleiben. Doch Bonhoeffer wehrt ab und teilt mit: "Ich habe kein Recht, an der Wiederherstellung des christlichen Lebens in Deutschland nach dem Kriege mitzuwirken, wenn ich nicht die Prüfungen dieser Zeit mit meinem Volk teile." Er will das leben, was er schon Jahre zuvor in dem von den Nazis beherrschten Deutschland gesagt, geschrieben und seinen Studenten immer wieder eingeschärft hatte. Darum kann er mit gutem Recht rückblickend im Gefängnis von seiner Kirche einfordern, dass sie die Bedeutung des menschlichen Vorbildes nicht unterschätzen dürfe, weil ihr Wort nicht etwa durch Begriffe, sondern nur durch Vorbilder "Nachdruck und Kraft" bekommt.

Das Vorbild: Gar nichts Religiöses

Doch nun haben wir genauer hinzuschauen. Von einem Vorbild - jedenfalls in der Kirche - dürften die meisten unter uns einen zutiefst religiösen Menschen erwarten. So werden wir darüber erstaunt sein, wenn Bonhoeffer noch kurz vor seiner Haftzeit von sich bekennt: "Ich bin keine religiöse Natur. Aber an Gott, an Christus muß ich immerfort denken, an Echtheit, an Leben, an Freiheit und Barmherzigkeit liegt mir sehr viel. Nur sind mir die religiösen Einkleidungen so unbehaglich."

Die Frage nach der Religion wird für Dietrich Bonhoeffer in seiner "Zelle 92" - in seiner anderthalbjährigen Haftzeit im Gefängnis von Berlin-Tegel - zu der zentralen Frage, zu der Gefängnisfrage. Denn von ihrer Beantwortung hing Bonhoeffers Glaubwürdigkeit seines bisher eingeschlagenen Lebensweges ab: War mein Weg als Christ, Pfarrer, evangelischer Theologe und einfach als Mensch in den Widerstand richtig, war er sogar von Gott so geboten? Was erwartet er von uns in unseren Gebeten und in unserem Handeln?

Was ist die eigentliche Aufgabe der Kirche? Hat sie nur um ihre Selbsterhaltung zu kämpfen? Wie hat sie überhaupt zu den Menschen zu sprechen - in welcher Sprache; muss diese Sprache religiös sein? Was macht uns so mündig und frei, dass wir als "Christen und Heiden", als Gläubige und Ungläubige gemeinsam Gott finden und ihm begegnen dürfen, wenn er nicht jenseitig, sondern mitten in der gottlosen Welt unter uns sein will? Was bedeutet eigentlich das Leiden Christi am Kreuz für die Welt? Bin ich nicht zum Mitleiden aufgerufen?

Bringt uns bei all diesen Fragen die jahrhundertealte Religion und Frömmigkeit in unserem Leben und in der Kirche weiter? Von diesen Fragen war Dietrich Bonhoeffer im Gefängnis, in seiner "Zelle 92", bedrängt.

 

Im Gefängnis wird alles auf den Prüfstein gestellt

Ich möchte mich darum besonders dem Häftling, dem Menschen und Bruder in Christo, Dietrich Bonhoeffer, in der "Zelle 92" zuwenden.

Wir haben uns zunächst in die Situation eines Häftlings hineinzudenken. In dem Gefängnis - Bonhoeffer berichtet uns oft darüber - herrscht ein raues Klima. Die Zellen sind klein, schmutzig und stinken. Das Essen ist karg. Der Umgangston ist hart, direkt, aber auch ehrlicher. Gefangene verkehren untereinander nicht wie Diplomaten: "Der ganze Bau hallt von wüsten Schimpfworten ehrenrühriger Art", berichtet Bonhoeffer. Es wird von seiten der Wärter und der Mitgefangenen gespottet: "Na, deine Religion, dein Glaube hat dich auch nicht vor dem Knast bewahrt. Nun sieh' mal zu, ob dir deine Religion hier hilft, dein Gott dich schützt." - Nach einiger Zeit fällt jede Maske von den anderen und auch von einem selber ab. In seinem ganzen Elend kann man sich untereinander nicht länger verstecken, sich gegenseitig etwas vormachen. Man wäre total überfordert. Im Gefängnis wird alles auf den Prüfstein gestellt.

Man soll nicht frömmer als Gott sein wollen

Und da schreibt er, der Dietrich Bonhoeffer. Er ist er schon 7 Monate in seiner "Zelle 92": "Ich komme bestimmt nicht als ein 'religiöser Mensch' von hier heraus! ganz im Gegenteil, mein Misstrauen und meine Angst vor der 'Religiösität' sind hier noch größer geworden als je." Noch ahnt, noch spürt er mit seiner Sicht von Religion nur, dass es nicht länger möglich ist, das "Wahre im Falschen zu suchen". Geht das überhaupt, stimmt das mit unserem wirklichen Leben überein, immer nur von einem jenseitigen Gott zu reden, ihn sozusagen nur zum Trösten, zum Vertrösten in Not und Elend zu benutzen?

Doch dann, nochmals ein halbes Jahr später, Bonhoeffer ist seit über einem Jahr im Gefängnis, bricht es aus ihm heraus. Er fragt sich, ob die Kirche mit ihrer 1900jährigen Verkündigung von den heutigen Menschen überhaupt noch verstanden wird. "Unserem ganzen bisherigen 'Christentum' wird das Fundament entzogen". Er will nicht länger eine Kirche, welche die Menschen nur in ihrer Not anspricht, sie damit in ihren Schwächen überfällt "und sie sozusagen religiös" vergewaltigt. Schon längst ist er auf der Suche nach einem Gott, mit dem er nicht mehr in den Schwächen wie bei Tod und Schuld, sondern in der Kraft, mitten im Leben und im Guten sprechen will. "Man soll Gott in dem finden und lieben, was er uns gerade gibt" und so auch "ein überwältigendes irdisches Glück geniessen". - Nein, man soll "nicht frömmer sein als Gott" und sich womöglich "durch eine wildgewordene religiöse Phantasie [& ] dieses Glück wurmstichig werden lassen."

Immer klarer zeichnet sich für ihn der zukünftige Weg ab. Bonhoeffer fordert: "nicht zuerst an die eigenen Nöte, Fragen, Sünden, Ängste denken, sondern sich in den Weg Jesu Christi mithineinreißen lassen", denn "Jesus ruft nicht zu einer neuen Religion auf, sondern zum Leben."

Übersehen wir nicht: Gerade für den Häftling in der engen "Zelle 92" geht es darum, sich auf gar keinen Fall die Welt draussen vom Leibe zu halten, sich in eine Art innere Frömmigkeit zu flüchten, die womöglich auch noch das Leid der Mitgefangenen übersieht. Das ist für ihn provinziell, engstirnig. Es geht nicht an, die Welt aufspalten zu wollen: Hier die Kirche, dort die Welt draussen; hier die Religion zur Erbauung der Seele und dort der raue Alltag. Wo das geschieht, dort wird Gott und das Leiden von Christus für die Welt nicht mehr ernstgenommen. Nein, so schreibt Bonhoeffer, unser "Verhältnis zu Gott ist kein 'religiöses' zu einem denkbar höchsten, mächtigsten, besten Wesen" & , sondern unser Verhältnis zu Gott ist ein neues Leben im 'Dasein-für-andere', in der Teilnahme am Sein Jesu."

Nicht feige sein, sondern Gott in die Arme werfen

Als Bonhoeffer das schreibt, steht er unter grösster Anspannung. Das Attentat auf Hitler ist am 20. Juli 1944 gescheitert. Von dem Scheitern erfährt er in seiner Zelle unmittelbar danach. Für ihn ist klar, was das auch für ihn persönlich bedeutet. An dem Misserfolg wird er nicht irre - ganz im Gegenteil: Jetzt kommt er zum Punkt. In den letzten Jahren hat er mehr und mehr verstehen gelernt, dass man nur dann ein Christ ist, wenn man erkennt, wie Jesus in allem ein Mensch gewesen war. - Über Jahre hinweg hatte er sich geirrt: "Ich dachte, ich könnte glauben lernen, indem ich selbst so etwas wie ein heiliges Leben zu führen versuchte." Doch nun muss er einsehen, "dass man erst in der vollen Diesseitigkeit des Lebens glauben lernt." Und da hat man dann völlig darauf zu verzichten, aus sich selbst etwas machen zu wollen - "sei es einen Heiligen oder einen bekehrten Sünder oder einen Kirchenmann (eine sogenannte priesterliche Gestalt!), einen Gerechten oder einen Ungerechten". Wenn man das kann, "dann wirft man sich Gott ganz in die Arme" und wird so "ein Mensch, ein Christ."

Ach ja, Gott ganz in die Arme werfen, das kann nur heissen: Ich bin am Ende meines Lateins. Mir fehlen die Worte, vielleicht auch das rechte Gebet. Ich kann nichts mehr sagen. Aber vielleicht kann ich genau in diesem Moment ein Mensch dem Menschen sein: einen Anderen, einen völlig am Boden Liegenden, einen Verzweifelten, einen Schwerkranken einfach nur umarmen - ohne Worte. Denn jedes Wort - gerade ein frommes, das nur vertröstet - könnte zuviel, könnte zynisch sein.

Der Häftling in der "Zelle 92" blickt nicht etwa angesichts des gescheiterten Putsches und seines ihm vor Augen stehenden Lebensendes resigniert oder sogar frustriert zurück. Er schreibt: "Ich bin dankbar, dass ich das habe erkennen dürfen und weiß, dass ich es nur auf dem Wege habe erkennen können, den ich nun einmal gegangen bin."

Bonhoeffer ist diesen Weg über viele Strecken hinweg mit Angst, aber nicht feige gegangen. Es war ihm geschenkt, sich selber ganz kritisch zu sehen, sich niemals etwas vorzumachen. So kann man an seinem Leben auch lernen, dass es sehr wohl biblisch, ganz christlich ist, Angst zu haben, aber dann, wenn's drauf ankommt, haben wir die neutestamentliche Aufforderung zu hören: "seid stark", seid nicht feige, denn Gott hat uns nicht gegeben den Geist der Feigheit, sondern der Kraft und der Liebe und der Zucht."

So darf es uns zuweilen nichts ausmachen, "in der Minderheit und manchmal auch ganz allein zu stehen." Wir haben uns durch kein Geschwätz und "durch keine Propaganda zu einem Massenprodukt machen zu lassen." Auch darüber hatte Bonhoeffer in seiner Zelle nachgedacht, ob nicht die Schwäche der Menschen - wie z.B. ihre Feigheit - "eine grössere Gefahr als die Bosheit" sei.

Treue Menschen - gute Mächte in der Not

Bald wird man ihn aus der "Zelle 92" auf einen noch schwereren Weg bringen. Wieder nähert sich ein Jahr dem Ende. Das folgende wird er nicht mehr überleben. - Bonhoeffer hat sich über die Treue von Menschen nie eine Illusion gemacht. Es ist nun einmal so, dass sich letzten Endes die Welt "in ein paar Menschen" zusammenfasst, "die man sehen und mit denen man zusammen sein möchte." Der gerade mal 38jährige Bonhoeffer schreibt an seinen Freund: "Du darfst nie daran zweifeln, dass ich dankbar und froh den Weg gehe, den ich geführt werde. Mein vergangenes Leben ist übervoll von Gottes Güte und über der Schuld steht die vergebende Liebe des Gekreuzigten. Am dankbarsten bin ich für die Menschen, denen ich nahe begegnet bin und ich wünsche nur, dass sie sich nie über mich betrüben müssen, sondern dass auch sie immer nur dankbar der Güte und der Vergebung Gottes gewiss sind."

Haben wir die Treue von ein paar wenigen Menschen auch schon erfahren dürfen? Ich denke jetzt an Menschen, die einen schwer Krebskranken über Monate hinweg treu begleitet  oder einen anderen in dessen Anfeindungen nicht aufgegeben haben, nicht einfach fallen liessen.

Diesen paar wenigen treuen Menschen im Leben widmet Bonhoeffer 1944 seinen letzten Weihnachtsgruss, das Gebet seines Abschiedes von ihnen: "Von guten Mächten wunderbar geborgen". In diesem Gebet spricht er nicht religiös, auch gar nicht theologisch. Die guten Mächte waren und sind ihm die Eltern, die Freunde und deren Gebete, gute Gedanken, Bibelworte, längst vergangene Gespräche, Musikstücke und Bücher. Es setzt sein Vertrauen darauf, dass "Gott mit uns am Abend und am Morgen und ganz gewiss an jedem neuen Tag" ist. Das ist der Gott, der "nicht alle unsere Wünsche, aber alle seine Verheißungen erfüllt".

Diesem Gott haben wir, wie die Reformatoren es uns aufgetragen haben, zu danken. Wir haben ihm zu danken, dass er uns einen Zeugen seines Evangeliums geschenkt hat, dass der Bruder in Christo, Dietrich Bonhoeffer, unter uns sein und uns viel zum eigenen Weitermachen hinterlassen durfte! - Danke!

 

Predigt von Pfr. Rolf-Joachim Erler, gehalten am 29. Janur 2006 in der Markuskirche in Zürich-Seebach