Von guten und bösen Mächten

Kraut und Unkraut, Feindesliebe und Widerstand. Von Niklaus Peter

Ein anderes Gleichnis legte er ihnen vor: Das Himmelreich gleicht einem, der guten Samen auf seinen Acker säte. Während aber die Leute schliefen, kam sein Feind, säte Unkraut unter den Weizen und machte sich davon. Als die Saat aufging und Frucht brachte, da kam auch das Unkraut zum Vorschein. Da traten die Knechte zum Hausherrn und sagten zu ihm: Herr, war es nicht guter Same, den du auf deinen Acker gesät hast? Woher kommt dann aber das Unkraut? Er antwortete ihnen: Das hat ein Feind getan! Da fragten ihn die Knechte: Sollen wir also hingehen und es ausreissen? Er sprach: Nein, damit ihr nicht, wenn ihr das Unkraut ausreisst, auch den Weizen mit herauszieht. Lasst beides miteinander wachsen bis zur Ernte. Und zur Zeit der Ernte werde ich den Schnittern sagen: Reisst zuerst das Unkraut aus und schnürt es zu Bündeln, um es zu verbrennen, den Weizen aber bringt ein in meine Scheune!

Matthäusevangelium 13.24-30

 

I

Gestern vor einhundert Jahren, am 4. Februar 1906, wurde Dietrich Bonhoeffer geboren – ein evangelischer Theologe, bei dem Denken, Beten und Leben in eindrücklicher Einheit verbunden waren. Ein Mann von grosser Überzeugungskraft, ein leidenschaftlicher Intellektueller und mutig Handelnder, zugleich ein Christ, der nicht nur professoral über das Gebet sprach, sondern es täglich praktizierte und daraus Kraft für seinen ungewöhnlichen Weg schöpfte.

Ein Mann deshalb von Disziplin und Konzentration – er selbst hätte von Zucht gesprochen – aber zugleich ein Mann mit einem weiten Horizont und einer geistigen Offenheit, der nach Indien zu Mahatma Gandhi reisen wollte, um dessen gewaltlosen Kampf für Gerechtigkeit und Frieden kennenzulernen, ein früher Denker der oekumenischen Bewegung, der in Amerika Impulse aus den lebendigen Gottesdiensten und Spirituals schwarzer Christen aufnahm. Ein Professor der Theologie, der nicht nur ein Buch mit dem Titel "Die Nachfolge" publizierte, sondern den dort beschriebenen Weg auch ging. Nachfolge Christi, so sagte er eindringlich, heisst dem Leiden nicht ausweichen und sein Kreuz auf sich nehmen. Einer der dezidiertesten und mutigsten Vertreter der Bekennenden Kirche und des Kampfs gegen den Antisemitismus in Kirche und Gesellschaft - schliesslich ein Mitverschwörer im Widerstand gegen Hitler, was ihn ins Gefängnis, in endlose Verhöre, zuletzt an den Galgen brachte. Ein Mann nicht ohne Widersprüche, aber einer, der sich dieser Widersprüche bewusst war und dennoch täglich versuchte, sein Christsein entschieden, ruhig, gelassen und fröhlich zu leben.

II

Ein evangelischer Heiliger? Sie werden wissen, dass er am Portal der Westminster Abbey in Stein gehauen steht, mit neun anderen Märtyrern des 20. Jahrhunderts zusammen. Er selber hätte gegen die Bezeichnung "Heiliger" entschiedenen Widerspruch eingelegt! Sein Gedicht "Wer bin ich?" spricht davon, wie andere ihn als heiter und freundlich und siegreich noch in der Zelle beschreiben, er selber sich aber als unruhig, ohnmächtig, zornig über all das Böse erlebe. Schliesslich fragt er sich selbstkritisch, ob er ein Heuchler sei, und wendet sich schliesslich mit seiner Frage an Gott: "Du kennst mich, dein bin ich, O Gott". Widerspruch hätte Bonhoeffer auch dagegen eingelegt, dass seine Gedanken und sein Leben Gegenstand einer Predigt würden – denn er war ein entschiedener Theologe der Schriftauslegung. Nur im Nachdenken über das in den biblischen Texten gegenwärtige Evangelium höre man das lebendige Wort Gottes.

Dietrich Bonhoeffers zu gedenken kann deshalb nur heissen, mit ihm in dieselbe Richtung zu schauen, wo er Licht sah, gleichsam mit ihm zusammen die Bibel zu lesen. Deshalb fahren wir in der Auslegung der Gleichnisse fort, mit dem Gleichnis vom Unkraut im Acker – und sind damit freilich sogleich mitten in den Fragen, die ihn bewegt haben: Wie geht man mit dem Bösen um, gerade wenn es in eigenen Bereich aufbricht? Darf man, muss man dagegen kämpfen?

III

Beginnen wir mit der Frage: Müssen wir denn dieses Gleichnis überhaupt auslegen, wo doch Matthäus selber in den Versen 36-43 eine Deutung gibt? Das Problem dabei, liebe Gemeinde, ist wiederum (wie schon beim Gleichnis des letzten Sonntags) – dass diese Erklärung eine allegorische Deutung gibt (der Sämann ist Jesus, der Unkraut Säende der Teufel, die Ernte das Weltende).

Aber diese Deutung ist mit grösster Wahrscheinlichkeit nicht von Jesus selber, sondern spätere Zutat. Sie verschiebt die ganze Aufmerksamkeit aufs Weltende hin, sie allegorisiert und evoziert Höllenfeuer – keine sehr erbauliche und hilfreiche Botschaft.

Konzentrieren wir uns also auf das Gleichnis selber. Es hat eine andere Perspektive. Es fragt danach, wie wir in der Gegenwart damit umgehen sollen, wenn es zu tiefgreifenden Konflikten mitten in der Gemeinde kommt, wenn gerade die, mit denen man zusammen einen neuen Weg gehen will, von destruktiven, gefährlichen Gedanken ergriffen werden und entsprechend handeln.

Das sind Situationen, die gar nicht so eindeutig sind: nicht hier die Lieben und dort die Bösen, sondern ein wogendes, bewegtes Feld mit wachsendem Weizen. Und während man sich einig zu sein scheint und sich in Sicherheit wiegt, taucht plötzlich ein gefährliches Unkraut auf. Jesus erzählt anschaulich und präzise, er spricht nämlich von einem Unkraut, das dem Weizen täuschend ähnlich ist, vom sogenannten Lolch, auch Tollkorn genannt. Das ist eine giftige Sorte, die verheerend ist und eine Ernte verseuchen kann.

Auch dieses Gleichnis Jesu kommt den Erwartungen der Hörer nicht entgegen, es irritiert sie vielmehr: Denn klar ist, Tollkorn wird in Palästina sogleich ausgejätet… Aber eben, das ist mit Verlusten verbunden, denn die Wurzeln des Tollkorns umschlingen Weizenwurzeln, beim Ausreissen geht viel an gutem Weizen damit verloren…

Weil es ein Gleichnis und keine Allegorie ist, so geht es nur um den springenden Punkt, nur um den zündenden Funken – im Blick auf die Frage: Wie gehen wir mit Tendenzen um, die wir für böse, schädlich, gefährlich halten? Und Jesus überrascht – wo jeder denken würde, dass hier das Böse sogleich ausgerissen, mit Stumpf und Stil ausgerottet werden müsse, sagt er: Lasst es stehen, konzentriert euch auf anderes.

IV

Natürlich erinnern wir uns nun an die Bergpredigt, an die Sätze: "Widerstehet dem Bösen nicht", nicht nur an Sätze wie "Liebe Deinen Nächsten wie dich selbst", sondern eben auch schwierigere Worte wie "Liebet Eure Feinde"! Und mit diesen Sätzen tauchen nun Fragen auf. Wenn wir mit Bonhoeffer die Bibel lesen – uns zurückversetzen in die Dreissigerjahre mit ihm, der so leidenschaftlich davon überzeugt wahr und auch recht hatte, dass Antisemitismus und Rassismus in der Kirche nichts zu suchen hätten und bekämpft werden müssten, dann fragen wir uns: Aber hat er denn selber nicht gekämpft? Wie ging er mit diesen Sätzen selber um?

Sein Buch über die "Nachfolge" besteht in der Hauptsache aus einer Auslegung der Bergpredigt Jesu – und eben auch des irritierenden Satzes "Ihr sollt dem Bösen nicht widerstehen!", des Gebotes der Feindesliebe. Und ganz deutlich wird bei Bonhoeffers Auslegung: Es geht keinesfalls um eine Verharmlosung des Bösen, im Gegenteil! Es geht um eine Überwindung des Bösen, aber eben so, dass man sich auf die Mittel des Bösen nicht einlässt. Das Böse wird dann kraftlos, wenn es in uns das nicht findet, was seine zerstörerische Kraft bestätigt und verstärkt: wiederum Böses nämlich, Hass, Rechthaberei, Durchsetzung um der Durchsetzung willen.

V

Und das scheint nun auch die Pointe unseres Gleichnisses zu sein: Konzentriert euch nicht auf das Umkraut, fixiert euch nicht darauf, die Bösen zu orten und zu bekämpfen, und damit auch andere zu gefährden, womöglich andere zu verdächtigen, womöglich euren Ängsten aufzusitzen und andere anzuschwärzen, immer in der Meinung, ihr wüsstet genau, was denn Weizen und was Unkraut ist, was denn giftig und was ungiftig ist. Durch diesen Kampf werdet ihr geprägt und nehmt selbst etwas vom Gesetz dieser bösen Kämpfe an, ja ihr kommt in die Gefahr, es gegen euren Willen zu verbreiten.

Das Gleichnis sagt nicht, dass es keinen Unterschied zwischen Weizen und Tollkorn gebe – keineswegs. Es sagt auch nicht, dass im Fazit eines Lebens von Gott her kein Unterschied gemacht werde. Nein, das Unkraut hat keinen Bestand, es trägt keine Frucht, wird weggeworfen – das sind deutliche Bilder für die Nichtigkeit und den Selbstverlust des Bösen. Das Aussortieren aber, das Richterspielen, die endgültige Entscheidung und die damit verbundene Kampfgesinnung, sagt unser Gleichnis, das alles sollen wir besser lassen.

VI

Aber – so fragen wir uns nun – hat denn nicht Bonhoeffer selber schliesslich den Entschluss gefasst, sich an der Verschwörung und an den Attentatsplänen zu beteiligen? Ja, so ist es. Aber es gibt eben Situationen, die man mit ethischen Regeln nicht bewältigen kann. Es gibt extreme Situationen von solcher Gefährdung, wo auch die richtigen Sätze aus der Bergpredigt und jene Grundeinsichten und Maximen unseres Gleichnisses übertreten werden müssen.

Bonhoeffer wusste darum, dass er mit seiner Beteiligung gegen eines der Zehn Gebote verstossen würde. Aber er wusste auch, dass es Situationen gibt, in denen man schuldig werden muss, um nicht noch mehr Schuld auf sich zu laden.

Er wusste, dass er bereit sein musste, seinen Preis dafür zu bezahlen. Bei der Nachfolge Christi handelt es sich nicht um Ideen und ethische Grundprinzipien, sondern um Gehorsam in ganz konkreten Situationen. Damals waren das extreme Situationen, in denen wir heute, Gott sei Dank, nicht stecken. Deshalb sollten wir uns auch nicht auf solche Extreme konzentrieren, sondern auf die Erfordernisse unseres Alltags.

VII

Verstehen wir uns richtig: Dietrich Bonhoeffer war auch, bevor er sich dem militärischen Widerstand anschloss, ein Kämpfer. Seine Schrift von der "Nachfolge" trägt auch die Züge eines Pamphlets gegen eine Kirche der billigen Gnade, eine Kirche, die ihr grösstes Gut zu Billigpreisen verschleudert. Gegen eine Kirche, die immer von Gnade und Vergebung spricht, und nie von Sünde, Korruption und Nachfolge zu sprechen wagt. Und darf ich auch das anfügen: Bonhoeffers Kritik an dieser Ausverkaufs-Kirche mit ihren Billigwaren trifft heute fast noch mehr zu als damals – und das sollte uns alarmieren, sollte uns ins Nachdenken bringen. Eine Kirche, die nur noch "Liebet einander" im Sinne von "All you need is love" sagt, hat das Evangelium vergessen und arbeitet an ihrer Selbstzerstörung. Aber, die Botschaft des Gleichnisses bleibt bestehen: Wer sich nun kampfesfreudig nur darauf konzentriert, diese Fehlentwicklung und ihre Exponenten zu bekämpfen, der wird von dem Bösen und Falschen, was er zu sehen und bekämpfen zu müssen meint, selbst geprägt. Die Kraft zur Überwindung kommt nur aus dem Guten, von Gott selber her!

VIII

Die meisten von Ihnen kennen das Glaubensbekenntnis Bonhoeffers, ich habe es vor einem knappen Jahr in einer Predigt zitiert. Dieses Bekenntnis steht in einem Rechenschaftsbericht mit dem Titel „Nach zehn Jahren“, den er kurz vor seiner Verhaftung geschrieben hat. Es ist eine eindrückliche Bestätigung der Guten Botschaft, die auch in unserem Gleichnis steckt und lautet folgendermassen:

"Ich glaube, dass Gott aus allem, auch aus dem Bösesten, Gutes entstehen lassen kann und will. Dafür braucht er Menschen, die sich alle Dinge zum Besten dienen lassen." Das sind Sätze, die nur aus Bonhoeffers Osterglauben verständlich sind: aus einem Glauben nämlich, der im Tiefsten an die Kraft Gottes glaubt, der den Tod durch das Leben, der das Böse durch das Gute überwunden hat und täglich neu überwindet. Und eindrücklich, wie Bonhoeffer noch in einem solchen Moment der Anspannung den Humor und die Selbstironie nicht verliert, wenn er fortfährt: "Ich glaube, dass auch unsere Fehler und Irrtümer nicht vergeblich sind, und dass es Gott nicht schwerer ist, mit ihnen fertig zu werden, als mit unseren vermeintlichen Guttaten." Dieses Bekenntnis schliesst mit den schlichten Sätzen dieses eindrücklichen Christen: "Ich glaube, dass Gott kein zeitloses Fatum (Schicksal) ist, sondern dass er auf aufrichtige Gebete und verantwortliche Taten wartet und antwortet." Amen

 

Predigt von Pfr. Dr. Niklaus Peter, gehalten im Fraumünster Zürich am 5. Februar 2005