Treue zur Welt. Eine Neujahrspredigt

Es gibt zwei grundsätzlich verschiedene Ziele, die der Glaube anstreben kann. Das eine ist der Rückzug von der Welt. Das andere ist die Treue zur Welt. Von Markus Unholz

Liebe Gemeinde

Es gibt zwei grundsätzlich verschiedene Ziele, die der Glaube anstreben kann. Das eine ist der Rückzug von der Welt.

Dies habe ich erlebt, als ich mit zwanzig Jahren in Japan ein paar Tage in einem buddhistischen Kloster zu Gast war. Mitten im Lärm der Grossstadt Kyoto lag, umschlossen von einer hohen Mauer, der wunderbare Klostergarten mit Büschen und Bäumen, Brunnen und Teichen. Eine Welt ganz für sich voller Ruhe und Frieden. Mittendrin stand das Kloster. Das Leben der Mönche wurde wesentlich geprägt von je zwei Stunden gemeinsamer Meditation frühmorgens und am Abend.

Man kann übrigens auch als Christ gut daran teilnehmen, weil man sich nicht zu etwas bekennen müsste, bei dem man seinen christlichen Glauben verleugnen müsste, sondern diese Meditationszeiten waren vor allem Zeiten der Stille. Einem aktivem, manchmal auch gestressten westlichen Menschen tut das gut. Ich fand es wohltuend, als Globetrotter, der ich damals war, zwei, drei Tage zur Ruhe zu kommen. Die Gespräche, die wir dann mit den wenig älteren Zen-Mönchen führten, haben mich allerdings nachdenklich gemacht. Ihr Ziel sei, die Welt hinter sich zu lassen.

Das mag auf den ersten Blick verlockend sein. Wie manches belastet uns doch, im Grossen wie im Kleinen, beim Blick auf all das, was rund um den Globus oder in unserer persönlichen Lebenswelt nicht rund läuft. Von all dem Belastenden innerlich frei zu werden, wer sehnt sich nicht manchmal danach! Und doch spürte ich an jenem Nachmittag in der Idylle des japanischen Gartens: Sich von der Welt, von den Menschen, ja sogar von meinem eigenen Ich loszusagen, das kann es nicht sein. Der Rückzug von der Welt war nicht mein Weg.

Sich den Herausforderungen stellen 

Wie viel mehr fühle ich mich da von Dietrich Bonhoeffer angesprochen. Für ihn ist die Treue zur Welt Ziel des Glaubens.

Treue - das kann ganz schön anstrengend sein. Treue zur Welt zeigt sich in verschiedenen Dimensionen: als Treue zu einer Aufgabe, die wir einmal übernommen haben, auch wenn sie mühsam wird; als Treue zu Freunden, auch wenn es ihnen nicht so gut geht und sie uns mehr brauchen als wir sie; als Treue zu einem bestimmten Menschen, zu dem wir einmal ja gesagt haben, auch wenn nicht jeden Tag eitel Sonnenschein herrscht.

Die Treue zur Welt hat Dietrich Bonhoeffer mit seinem Leben bezeugt. Deshalb kann er uns auch heute noch so beeindrucken. Er hat sich nicht damit begnügt, möglichst ungestört in der Abgeschiedenheit seines Studierzimmers nachzudenken und zu forschen. Den Herausforderungen seiner Zeit hat er sich gestellt.

Gedanklich, indem er schon damals erkannt hat, dass die religiöse Sprache für viele Menschen schwer verständlich ist und er darum in einer nicht religiösen Sprache von Gott zu reden versuchte. Ja, auch unser Glaube hat es nötig, dass wir ihn immer wieder mit neuen Worten aussagen, dass wir uns nicht hinter religiösen Begriffen verstecken; dass wir in den konkreten Erfahrungen und Geschichten unseres Lebens spüren, wer Gott für uns ist, wo und wie wir ihn erfahren, und wir dies in einfachen Worten ausdrücken.

Eine weitere Herausforderung, die sich in jener Zeit zu stellen begann, war die Ökumene: Bonhoeffer gehörte zu den ersten, die diese bewusst pflegten. Das war in den 1930er-Jahren noch alles andere als selbstverständlich.

Treue und Widerstand

Und dann die politische Herausforderung: 1938 wird Bonhoeffer wegen seiner kritischen Haltung zum Nationalsozialismus aus Deutschland ausgewiesen, im Juli 1939 kehrt er aus den USA nach Deutschland zurück, obwohl ihn seine amerikanischen Freunde gebeten hatten, bei ihnen in Sicherheit zu bleiben. Während des Krieges schliesst er sich dem Widerstand gegen Hitler an. Nach dem missglückten Attentatsversuch gegen Hitler wird er wegen seiner Verbindungen zu den dahinter stehenden Kreisen verhaftet und im nordbayerischen Konzentrationslager Flossenbürg am 9. April 1945, also weniger als einen Monat vor Kriegsende, hingerichtet.

Die "Treue zur Welt" hat Bonhoeffer mit seinem Leben bezahlt. Sie war für ihn nicht einfach eine Strategie für das kirchliche Handeln.

Heute hat man bisweilen den Eindruck, im Kampf gegen ihre schwindende Bedeutung sehe es die Kirche als erfolgversprechend an, sich auf alle möglichen und unmöglichen Strömungen der Welt und der Zeit einzulassen. Treue hat aber nichts mit Anbiederung zu tun. Das scheint mir auch in menschlichen Verhältnissen deutlich zu werden. Wer einem anderen Menschen treu ist, der heisst nicht alles und jedes gut, was der andere macht, sondern bleibt trotzdem eigenständig. Treue, hinter der Liebe steckt, schreckt auch vor Kritik am anderen nicht zurück. Treue zur Welt kann sich auch in Kritik an den herrschenden Verhältnissen äussern, wenn diese dem Leben nicht dienen, oder, wie bei Bonhoeffer, im Kampf gegen sie.

Treue zur Welt -  das ist die grosse Konstante in Bonhoeffers spannungsgeladenem und ereignisreichen Leben. Geleitet war er dabei - und da kann er auch für uns heute wegleitend sein - von einem tiefen Verstehen der Treue Gottes zur Welt.

Alles was über diese Welt hinausgeht...

In Jesus Christus findet diese ihren sichtbarsten Ausdruck: in seiner Menschwerdung, darin, wie er auf die Menschen zuging, da, wo sie ihn in ihrer äusseren und inneren Not brauchten, in seiner am Kreuz gezeigten Solidarität mit den dunkelsten menschlichen Erfahrungen von Leiden und Sterben und in der Auferstehung. Daran war ihm wichtig: Alles, was über diese Welt hinausgeht, ist für diese Welt da. Durch Christi Auferstehung sind wir, solange wir leben, nicht von der Welt gelöst, sondern mit umso stärkerer Kraft an die Erde verwiesen.

Von daher gewann Bonhoeffers Treue zur Welt ihre Spannweite, ihre Geduld und ihre Heiterkeit. Treue ist keine Ideologie, sondern ein manchmal mühsamer, anstrengender, ja gefährlicher Weg, der immer wieder neu begangen werden muss. Neue Situationen machen neue Überlegungen und Entscheidungen notwendig. So wollen Bonhoeffers Überlegungen nicht grundsätzlich, nicht allgemeingültig sein für alle Zeiten, sondern für den Augenblick, für die jeweils konkrete Situation hilfreich, dem konkreten Menschen gegenüber barmherzig.

Das Heilige nur im Profanen

Solche Gedanken Bonhoeffers geben kräftige Impulse für das Leben, Arbeiten und Hoffen in dieser Welt. Lassen wir ihn nun selbst zu Wort kommen in einem Abschnitt aus seiner Ethik (zitiert aus: Treue zur Welt, München, 31981, Seite 22): 

"Es gehört zum wirklichen Begriff des Weltlichen, dass es immer schon in der Bewegung des Angenommenseins und Angenommenwerdens von Gott in Christus gesehen wird. Wie in Christus die Gotteswirklichkeit in die Weltwirklichkeit einging, so gibt es das Christliche nicht anders als im Weltlichen, das "Übernatürliche" nur im Natürlichen, das Heilige nur im Profanen, das Offenbarungsmässige nur im Vernünftigen. Eine Welt, die für sich bestehend, dem Gesetz Christi entnommen ist, verfällt der Bindungslosigkeit und Willkür. Eine Christlichkeit, die sich der Welt entzieht, verfällt der Unnatur, der Unvernunft, dem Übermut und der Willkür.

Es gibt kein wirkliches Christsein ausserhalb der Wirklichkeit der Welt und keine wirkliche Weltlichkeit ausserhalb der Wirklichkeit Jesu Christi. Es gibt keinen Rückzugsort des Christen von der Welt, weder äusserlich noch in der Sphäre der Innerlichkeit. Jeder Versuch, der Welt auszuweichen, muss früher oder später mit einem sündigen Verfall an die Welt bezahlt werden. Die Pflege einer von der Welt unberührten christlichen Innerlichkeit wird für die Augen des weltlichen Beobachters meist etwas Tragikomisches haben; denn die scharfsichtige Welt erkennt sich dort selbst am deutlichsten wieder, wo die christliche Innerlichkeit sie im Selbstbetrug am fernsten wähnt.

Wer sich zu der Wirklichkeit Jesu Christi als der Offenbarung Gottes bekennt, der bekennt sich im selben Atemzug zu der Wirklichkeit Gottes und zu der Wirklichkeit der Welt; denn er findet in Christus Gott und die Welt versöhnt. Eben darum aber ist der Christ auch nicht mehr der Mensch des ewigen Konflikts, sondern wie die Wirklichkeit in Christus eine ist, so ist er, der zu dieser Christuswirklichkeit gehört, auch selbst ein Ganzes. Seine Weltlichkeit trennt ihn nicht von Christus, und seine Christlichkeit trennt ihn nicht von der Welt. Ganz Christus angehörend, steht er zugleich ganz in der Welt."

Treue heute?

Was mag das nun für uns heute heissen: Ganz Christus anzugehören und ganz in der Welt zu leben?

Für Bonhoeffer lag damals auf der Hand, wofür er primär einzustehen hatte: für die Befreiung der Menschen von Hitler und von der menschenverachtenden nationalsozialistischen Ideologie. Heute mag es weniger eindeutig sein als damals, in welcher Hinsicht die Welt unsere Treue besonders braucht, wie sich unser treues Einstehen für das von Gott geschenkte Leben konkretisieren kann und muss.

Doch überlegen wir uns mal, wonach uns in 50 Jahren unsere Kinder und Kindeskinder fragen werden: Vielleicht, ob wir nicht zu gleichgültig, zu passiv gegenüber dem Klimawandel, jener schleichenden Gefahr, waren? Ob wir das Wissen um die existenzielle Not von Menschen in anderen Erdteilen in unserem Handeln als Konsumenten, als Staatsbürgerinnen umgesetzt haben?

Ob wir das Belastende nicht fliehen, nicht wegschauen, es nicht überspielen, sondern es, aus der Verbindung mit dem gekreuzigten und auferstandenen Christus, zu tragen versuchen - in unserem persönlichen Leben, unter den Menschen, mit denen wir zusammenleben und in weltweiter Dimension?

Treue zur Welt zeigt sich im kleineren Rahmen - darin, ob wir unser Leben als Mutter oder Vater, als Ehepartner, als Freund, als Arbeitskollege oder in was für einem Verhältnis wir auch immer stehen zu anderen Menschen um uns herum - ob wir unser Leben und Zusammenleben so liebevoll, engagiert, verständnisvoll und so heiter wie möglich führen.

Treue und Heiterkeit

Heiterkeit, ja, das ist ein Lieblingswort von Bonhoeffer. Nicht an schenkelklopfend Überbordendes ist dabei gedacht. Sondern die Heiterkeit, die Bonhoeffer meint, ist die Folge von Gottes barmherziger Treue zu uns in unserer ganzen manchmal schönen, manchmal schweren Menschlichkeit. Sie kam schon dem Volk Israel entgegen, sie zeigte sich in Jesu Leben zwischen Krippe und Kreuz und sie klingt in den Worten des Auferstandenen an die Jünger bis zu uns weiter: "Ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende." (Matthäus 28,20b).

Diese Zusage mag uns heiter und der Welt und den Menschen zugewandt ins neue Jahr hineinschreiten lassen. Und vielleicht spüren wir unterwegs, dass wir durchaus dann und wann unseren "japanischen Garten" in seiner stillen Harmonie oder einen anderen kraftspendenden Rückzugsort brauchen, um auch wieder umso mutiger das Tor zur Welt durchschreiten zu können.

Bonhoeffer jedenfalls war beides wichtig: sich stets von neuem gedanklich, betend und meditierend auf Christus als Mitte hin zu sammeln; und aus der Gewissheit, dass dieser mit seiner guten Macht Tag für Tag bei ihm sei, einen weiten Radius des Lebens und Wirkens in Treue zur Welt zu gewinnen.


Neujahrspredigt, gehalten von Pfr. Markus Unholz am 1. Januar 2006 im evangelischen Kirchgemeindehaus St. Gallen St. Georgen